Dene wo’s guet geit: Im Gespräch mit dem Choreographen Muhammed Kaltuk (Tanzkompanie MEK)
Muhammed Kaltuk ist ein herausragender Tänzer und Choreograph aus Basel.
Seine Tanzkompanie MEK steht für Vielfalt und hat eine klare aktivistische und künstlerische Stimme. Ihre Bewegungssprache ist stark, kraftvoll und anders als alle anderen Tanzkompanien in der Schweiz.
Muhammeds Bewusstsein für die Welt um ihn herum erfüllt ihn mit der Leidenschaft, Veränderungen und Verbesserungen anzustreben. Mit seiner Verschmelzung von Hip-Hop und Zeitgenössischem Tanz, sowie den gesellschaftlich relevanten Themen, welche er aufgreift, spricht er alle im Publikum an, insbesondere diejenigen, die sich sonst im Theater nicht gesehen, gehört oder vertreten fühlen.
Jasmina Amadoun: Muhammed, deine Tanzstücke handeln unter anderem davon, was Menschen und Gesellschaften zusammenhält und was sie hingegen auch spaltet. Beispielsweise dreht sich das Stück “Territory“ um Grenzen. In “Raising Karen’s Children” hast du mit MEK das Thema Rassismus in der Schweiz aufgegriffen und klar die Missstände benannt.
Nicht alle marginaliserten Personen können oder wollen über Rassismus sprechen. Denn nicht selten stossen sie auf White Fragility1, die Äusserungen werden nicht ernst genommen oder man wird als empfindlich bezeichnet. Mit deiner Arbeit setzt du dich in noch grösserem Ausmass diesen Reaktionen aus. Mit welcher Resonanz sahst du und dein Team euch konfrontiert?
Muhammed Kaltuk: Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich oft ein diverses Publikum erreiche und auch das Gefühl habe, dass meine Botschaft für das Publikum wichtig ist und positiv aufgenommen wird.
Natürlich ist es auch schon vorgekommen, dass in den Nachgesprächen Fragen oder Vorwürfe an uns gerichtet wurden, die wir im Stück behandelt und sehr klar beantwortet haben. Das kann dann schon verletzend sein, vor allem auch für das Team. Nicht die Fragen an und für sich, sondern die Art und Weise wie manchmal gefragt wird, wirkt verletzend.
Denn wir öffnen uns, erzählen von unseren Erfahrungen und zeigen uns von einer sehr verletzlichen Seite.
Einmal wurde eine unserer Aussagen in einem Stück, welche das weisse, hetero-normative System kritisierte, selbst als rassistischer Vorwurf bezeichnet und es folgte die Aufforderung, wir sollten den Fehler bei uns BIPoC suchen.
Das ist das Negative. Jedoch überwiegt das Positive klar: ausverkaufte Aufführungen und Standing Ovations. Bei vielen Zuschauer:innen, spürt man, dass die Thematik relevant ist. Auch weisse Menschen kommen und sagen, dass es diese Auseinandersetzung mit dem Thema braucht und bedanken sich.
Jasmina: Stösst du da auf Widerstand und Hürden oder sind die Theaterhäuser offen dafür, ein Stück zu präsentieren, welches sich der Thematik Rassismus annimmt?
Muhammed: Wenn wir von Institutionen sprechen, hatte ich bisher noch nie Schwierigkeiten diesbezüglich erlebt. Ich reiche meine Konzepte ein und bisher wurden sie stets unterstützt.
Ich vertraue dabei auf meine innere Stimme, die mir sagt, was ich noch ausreizen kann und wo es vielleicht zu weit ginge – was vielleicht zu polarisierend ist.
Natürlich versuche ich die Grenzen auszuloten. Meine eigenen, wie auch die meiner Kunst. Da solche Botschaften als aggressiv oder jammernd aufgefasst werden können, achte ich darauf, wie ich diese verpacke, damit sie auf offene Ohren stossen.
Ich möchte aber auch nicht mit dem Finger auf Andere zeigen oder belehrend wirken, sondern dem Publikum auf emotionale und zum Teil auch witzige Art und Weise andere Realitäten näherbringen und vermitteln, dass es auch andere Wege gibt diese Realitäten aufzufassen. Das finde ich so spannend an der Kunst.
Dabei wird mir manchmal bewusst, dass die Tanzstile der Hip-Hop Kultur nicht dieselbe gesellschaftliche Anerkennung erhalten wie der Klassische Tanz und das Ballett. Dies hängt sicherlich auch mit Klassismus und Rassismus zusammen.
Es braucht mehr Aufklärung zu den Ursprüngen der Hip-Hop Kultur.
Hip-Hop Dramaturgie fehlt sowohl an in den Ausbildungsstätten, als auch in den Theaterhäusern. Der Journalismus beschränkt sich leider darauf, dass wir die “coolen” Tänzer:innen sind.
Ich spüre aber auch, dass die Institutionen sich bemühen, der gleichwertigen Anerkennung der Tanzstile nachzugehen. Ich sehe mehr Offenheit und dass der Kontakt zu Menschen aus marginalisierten Gruppen gesucht wird. Das freut mich sehr.
Hürden sind z.B., dass gewisse Theaterhäuser nicht in der Lage sind, den verschiedenen Hauttönen entsprechendes Makeup und Tape bereitzustellen, weshalb
nicht-weisse Tänzer:innen ihr privates Makeup und Tape für Aufführungen nutzen müssen.
Somit gibt es in Sachen Inklusion definitiv Verbesserungspotenzial.
Gleichzeitig möchte ich betonen, dass ich Ratschläge von Personen, mit denen ich eng und lange zusammenarbeite in meine Kunst einfliessen lasse. Einige von ihnen sind in der freien Szene und andere in Theaterinstitutionen aktiv.
Jasmina: Im Stück “Dene wo’s guet geit” spielte auch das gleichnamige Lied von Mani Matter, welches davon handelt, dass es allen besser gehen würde, wenn es auch jenen besser ginge, denen es gerade nicht gut geht.
Weshalb hast du dieses Lied gewählt?
Muhammed: Im westlichen Kontext neigen wir gelegentlich dazu, arrogant anzunehmen, dass wir genau wissen, wer unter welchen Bedingungen besser leben würde. Wir denken, dass es anderen Menschen besser ginge, wenn sie so leben würden wie die Mehrheitsgesellschaft beispielsweise. Dieses Denkmuster ist kolonial geprägt. Die Ambivalenz dieser Doppelmoral hat mich dazu inspiriert, mich künstlerisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Jasmina: In dem Stück wurden die zahlreichen Herausforderungen thematisiert, denen Frauen mit Kopftuch in der Schweiz gegenüberstehen. Deine Mutter trägt ein Kopftuch und ihre Erfahrungen haben dich dazu inspiriert, dieses Stück zu schreiben. Gab es ein bestimmtes Ereignis, welches als Auslöser diente?
Muhammed: Wenn ich mit meiner Mutter unterwegs bin, werde ich stets auf eine andere Art von der Gesellschaft betrachtet, als wenn ich allein bin. Sie trägt einen Hijab und insbesondere, wenn es draussen heiss ist und ich daneben in kurzen Hosen bin, nehme ich viele vorurteilsvolle Blicke auf uns wahr, die mir zu sagen versuchen: “Da der Mann, der sich freizügig anziehen darf und die Frau, die sich verdecken muss”.
In den Medien und öffentlichen Diskursen wird genau diese Ansicht immer wieder, wie eine Parole wiederholt. Somit ist es nicht verwunderlich, dass ich in Momenten solch vorwurfsvoller Blicke diese Gedanken habe.
Ich erlebe mit, dass meine Mutter manchmal nicht ernst genommen wird. In diesen Situationen bin ich machtlos und kann lediglich für sie da sein.
Sie hat sich hier nie willkommen gefühlt, ist aber geblieben und hat ihre Kinder hier aufgezogen.
Diesen Erfahrungen ging ich nach, denn ich wollte, dass diese Realität gesehen wird – weil sie gesehen werden muss.
Schon der blosse Gedanke daran, dass man anderen vorschreiben möchte, was sie anziehen dürfen und was nicht, ist erschreckend und ist mit dem Burkaverbot Tatsache geworden.
Ich gehe davon aus, dass alle Menschen selbstbestimmt entscheiden wollen, was sie anziehen möchten. Egal ob es für sie religiös begründet ist oder nicht. Diese Freiheit sollte allen zugutekommen und nicht nur jenen, die der Mehrheitsgesellschaft angehören und sich nach der entsprechenden Norm kleiden.
Letztendlich bin ich zwar Teil der Gemeinschaft, aber ohne Schweizer Staatsbürgerschaft kann ich nicht über diese Angelegenheiten abstimmen, obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin. Auf gewisse Weise fühle ich mich also nicht dazugehörig, was mich machtlos zurücklässt.
Es war mir wichtig, meine Erfahrung des Aufwachsens zwischen den Kulturen darzustellen und diese beiden Welten zu zeigen. Das habe ich auch musikalisch umgesetzt, indem ich Elemente von Mani Matter mit arabischen Klängen kombiniert habe.
Es ging bei dem Theaterstück auch darum, aufzuzeigen wie ein blosses Stück Stoff für viele Menschen in einem Moment eine Barriere sein kann, im nächsten jedoch eine schöne, eigene Identität kreiert. Auch die verschiedenen Facetten, welche zur Schönheit meiner Mutter gehören, wollte ich mit dem Publikum teilen.
Es macht mich überglücklich, dass mit dem Stück eine Perspektive gezeigt wurde, welche von der Gesellschaft scharf kritisiert wird und dass die Herzen der Zuschauer:innen auf eine sehr emotionale und positive Art berührt werden. Ich habe das Publikum ins Herz geschlossen und freue mich auf die nächsten Vorstellungen in Luzern.
Übrigens sprechen die damaligen Zuschauer:innen bis heute noch vom “Stück mit dem Tuch”.
Jasmina: Das ist dir meisterhaft gelungen! Für jene, welche das Stück nicht gesehen haben: über die ganze Bühne war ein riesiges Tuch gespannt, mit dem die Tänzer:innen ständig in verschiedener Weise interagiert haben. In der Schlussszene hat die Protagonistin das Tuch (welches im Stück symbolisch für das Kopftuch stand) in der Hand.
Muhammed: Sie musste es am Schluss runterreissen, damit die anderen glücklich sind. Für die Protagonistin ist es jedoch tragisch, denn sie war ja am Anfang glücklich.
Es ist tatsächlich so, dass in der Schweiz und in Europa die öffentliche Meinung stark von der Vorstellung geprägt ist, dass das Tragen eines Kopftuchs eine Form der Unterdrückung darstellt. Dabei wird oft der Kontext und die individuelle Entscheidung der Person, die das Kopftuch trägt, komplett ausser Acht gelassen.
Die Schlussszene lässt sich auf verschiedene Weisen interpretieren. Was ich sicherlich vermitteln wollte, ist, dass man kein Glück findet, wenn man sich von den Erwartungen anderer leiten lässt und deren Projektionen die eigenen Handlungen beeinflussen.
Jasmina: Verlassen wir mal die Kulturszene und betrachten das Thema Rassismus auf einer gesellschaftlichen Ebene: In welchem Bereich erlebst du in der Schweiz die grössten Probleme mit Rassismus?
Muhammed: Wenn ich meinen Bart gestutzt habe, werde ich häufig als Italiener oder Portugiese wahrgenommen und erlebe weniger Rassismus.
Wenn aber mein Name fällt, spüre ich, wie plötzlich auf eine andere Art und Weise mit mir gesprochen wird. Vor allem seit dem 7. Oktober 2023.
Wenn ich mich vorstelle, sage ich “Muhi” oder “Kaltuk”, weil es weniger türkisch klingt oder ich nutze manchmal die englische Aussprache – früher, aber häufiger als heute.
Als ich vor circa 10 Jahren im Baselbiet im Pflegebereich arbeitete, weigerten sich einige Patient: innen von mir gepflegt zu werden.
Es ist statistisch erwiesen, dass Menschen in der Schweiz mit vermeintlich “fremd” klingenden Namen in verschiedenen Lebensbereichen wie der Wohnungssuche und Jobsuche grössere Schwierigkeiten haben.
Dadurch, dass ich mit 16 Jahren in meinem Job mit Rassismus konfrontiert wurde, habe ich einen Charakter entwickelt, der sagt: “I do me, I don’t give a fuck!”. Ich erfahre zwar viel Unterstützung, habe aber dennoch so viel Missgunst erlebt, dass ich gelernt habe diesen auszublenden und mein Ding durchzuziehen.
Jasmina: Wo und wie nimmst du Rassismus in der Schweiz des Weiteren wahr?
Muhammed: Jede Person erlebt Rassismus auf eine andere Art und Weise und ist mehr oder weniger davon betroffen. Bei mir taucht Rassismus eher subtil auf – hinterlistig versteck er sich hinter Papieren und Formularen.
Oder ich werde direkt damit konfrontiert: Die Patienten haben zwar die Konfrontation mit mir persönlich gescheut, aber der Stationsleitung ausdrücklich klar gemacht, keinen Kontakt mit mir zu wünschen aufgrund meines Namens.
Was mir zudem schwerfällt, ist das Schweigen der Beistehenden, wenn jemand Rassismus erlebt und sich niemand für die betroffene Person einsetzt.
Jasmina: Was für Lösungsansätze siehst du in der Bekämpfung von Rassismus in der Schweiz?
Muhammed: Ich hege die Hoffnung, dass wir aktiv den Dialog miteinander suchen. Wenn Menschen bereit sind, die Realitäten anderer zu verstehen und akzeptieren, dass Vielfalt existiert. Selbstreflexion, Akzeptanz und Mitgefühl spielen dabei eine zentrale Rolle. Darüber hinaus sollten wir alle unsere individuellen Privilegien hinterfragen. Es ist ein bedeutender Fortschritt, wenn wir erkennen, welche Privilegien wir haben und verstehen, dass andere Menschen mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert sind.
Jasmina: Worauf findest du könnte in der Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung zusätzlich geachtet werden?
Muhammed: Viele Menschen leisten bereits sehr viel Arbeit über Missstände aufzuklären und sie zu beheben. Mir wäre es wichtig, dass alle marginalisierten Gruppen ihre Herausforderungen noch mehr publik machen und dass sich die Menschen gegenseitig dazu motivieren und ermutigen, sich für ihre jeweiligen Anliegen einzusetzen. Was ich wirklich schätze, ist, wenn Menschen über soziale Medien und ähnliche Plattformen öffentlich auftreten und eigene Medienformate und Institutionen gründen – ohne staatliche Unterstützung. Dadurch können sie sich von den alten Strukturen distanzieren und eine unabhängige Stimme haben.
Jasmina: Welches sind deine aktuellen und kommenden Projekte?
Muhammed: Bald führen wir im Stadttheater Luzern das Stück “Hemmige” auf. Wir arbeiten da mit weiteren Liedern von Mani Matter. Seine genialen Texte vergangener Epochen haben wir in die Sprache und den Kontext der heutigen Zeit versucht zu übertragen.
Das nächste Projekt heisst “Same Love” und wird in öffentlichen Räumen aufgeführt werden.
Jasmina: Es bleibt also spannend! Letzte Worte, welche du den Leser:innen mitgeben möchtest?
Muhammed: You do you & let’s support each other!
Jasmina: Muhammed Kaltuk, danke für deine geniale Kunst, wertvolle Arbeit und dass du unsere Kämpfe gegen Diskriminierung auf den Tanzbühnen vertrittst!
1 White Fragility, zu deutsch Weisse Fragilität, ist ein Begriff, der von Robin DiAngelo geprägt wurde. Weisse Zerbrechlichkeit löst eine Reihe von Abwehrhaltungen aus, die weisse Menschen an den Tag legen, wenn sie mit unbequemen Wahrheiten über Rassismus konfrontiert werden. [https://vielfalt.uni-koeln.de/antidiskriminierung/glossar-diskriminierung-rassismuskritik/white-fragility#:~:text=White%20Fragility%2C%20zu%20deutsch%20Wei%C3%9Fe,Wahrheiten%20%C3%BCber%20Rassismus%20konfrontiert%20werden.]
Am 24. Mai 2024 prämiert das neue Stück der MEK Tanzkompanie “Hemmige” im Luzerner Stadttheater und wird dort über die folgenden Wochen bis Ende Juni aufgeführt. Kaltuk blickt kritisch auf die Spaltungen und Unversöhnlichkeiten unserer Gesellschaft, hinterfragt, was soziale Kluften mit dem einzelnen Menschen machen und paart musikalisch neu komponierte Rhythmen mit Liedern von Mani Matter. Eine Produktion, die Schweizer Kulturerbe und brandaktuelles Tanzschaffen auf wunderbare Weise zusammenbringt.