Nach den Sommerferien

Dieser Text beruht auf einer wahren Begebenheit und wurde im Einverständnis mit dem Hauptprotagonisten veröffentlicht.

Nach den Sommerferien werde ich jeweils etwas wehmütig, weil ich dann an all die Jugendlichen denken muss, die noch bis vor wenigen Wochen im Schulhaus, in welchem ich als Schulsozialarbeiterin tätig bin, täglich ein- und ausgingen und die nun mit dem Beginn ihrer Lehrstelle in einen neuen, für sie sehr bedeutenden Lebensabschnitt starten. Dabei kommt mir jedes Mal auch die Geschichte von Blerim Beqiri (Anmerkung: Name geändert) in den Sinn.

Ich lernte Blerim 2019 kennen, als er in der 1. Sek B war. Bei einem Besuch in seiner Klasse, in welcher ich meine Arbeit und mich selbst vorstellte und den Jugendlichen erklärte, wann und wo sie mich finden können, falls sie mal meine Unterstützung in Anspruch nehmen wollen, fiel er durch seine sehr gesprächige, offene und interessierte Art auf. Bereits am nächsten Tag vernahm ich ein Klopfen am Fenster meines  Büros, dass sich im Erdgeschoss mit Blick auf einen Teil des Pausenplatzes befindet. Blerim legte auf seinem Heimweg einen Zwischenstopp ein. Dies tat er in den Wochen und Monaten darauf immer wieder mal. Meistens klopfte er an die Scheibe und wollte kurz mit mir sprechen. Hie und da winkte er mir auch einfach nur zu oder zeigte einen Daumen nach oben: Alles okay.

Der nächste Sommer war bereits angebrochen, die Bienen summten laut und der See, welcher vom Pausenplatz aus betrachtet werden kann, glänzte in wundervollem Azurblau, als Blerim mir stolz erzählte, er könne nach drei Jahren auf der Stufe Sek B, nun noch ein Jahr Sek A «anhängen», um so einen Schulabschluss in Letzterer zu erreichen. Ich gratulierte ihm und freute mich von Herzen für ihn.

Gleichzeitig stellte ich mir die Frage, was ein paar Jahre zuvor während der Primarschulzeit wohl genau schiefgelaufen ist, dass er überhaupt ins tiefere Niveau B eingeteilt wurde. Doch so wie Blerim, richtete ich meinen Blick nach vorne und fokussierte mich darauf, was nun war und was in Zukunft noch verändert werden sollte.

Blerim wirkte stets gut gelaunt und hatte häufig einen lustigen Spruch oder eine unterhaltsame Geschichte auf Lager. Mit jedem Besuch erfuhr ich ein neues Puzzleteil über ihn und seine Familie. Er erzählte mir die Fluchtgeschichte seiner Mutter und seiner älteren Geschwister aus Kosovo und wie schwer es für seine Eltern war, in der Schweiz richtig Fuss zu fassen. Er vertraute mir zudem auch seine neusten Flirtversuche bei Mädchen an und wollte diesbezüglich gleich wissen, ob er sich meiner Meinung nach dabei geschickt anstelle. Manchmal musste er auch einfach loswerden, wie spannend die neue Netflix-Serie war, die er gerade schaute. Der unverbindliche Zwischenstopp ausserhalb der Schulzeit entwickelte sich zu einer Art Ritual. Mit der Zeit konnte ich an Blerims Gesichtsausdruck von Weitem erkennen, wie es ihm ging und vor allem was der aktuelle Stand seiner Lehrstellensuche war. Denn darüber hielt er mich nämlich ebenfalls auf dem Laufenden.

In der Sek A glänzte Blerim, was die Schulnoten anging, durchs Band. In der Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern war er gar Klassenbester.

Blerim erzählte mir bei einem seiner ersten Fensterbesuche von seinem Ziel, eine Lehrstelle als (Hochbau-)Zeichner zu finden und später im Berufsfeld der Bau- und Raumplanung bei einem Architektur- oder Ingenieurbüro zu arbeiten.

Kurz nach den Herbstferien stand er wieder einmal an meinem Fenster. Die Blätter der Bäume hatten von Grün zu Gelb und später dann zu Rot gewechselt und Blerim verkündete stolz: «Sie, ich bin vomene Betrieb zum ‹Schnuppere› iglade worde!» Beim nächsten Mal strahlte er dann übers ganze Gesicht und informierte mich darüber, dass er es nach dem Probearbeiten in die engere Auswahl der Kandidat:innen für die Lehrstelle geschafft habe. Ich war mir sicher, es würde nicht mehr lange dauern, bis ihm ein Lehrvertrag angeboten würde. Und so geschah es dann auch: In einem der ersten Betriebe, in welchem er ein Kurzpraktikum absolvieren durfte, überzeugte er alle mit seiner Persönlichkeit, seinen Fähigkeiten und seinem Talent und erhielt eine Zusage. Er kam anschliessend weiterhin Woche für Woche an meinem Fenster vorbei, winkend, lächelnd und wie eh und je mit einer neuen interessanten Anekdote.

Im Spätherbst an einem grauen, regnerischen Tag konnte ich, als ich ihn sah, sofort erkennen, dass etwas nicht so war wie gewohnt. Blerim wirkte bedrückt. Er war ungewohnt still und lächelte nicht, wollte aber trotzdem mit mir sprechen. Zum ersten Mal sagte er mir, dass er neben meinem Offenen Ohr auch meine Unterstützung brauchen könne, da der Betrieb, der ihm seine Lehrstelle zwar mündlich zugesagt hatte, nun aber einen Rückzieher machte. Grund: Die Ausbildnerin sei zwischenzeitlich schwanger geworden und somit gäbe es im Unternehmen keine Person mehr, welche sich um die Lernenden kümmern könne. Blerim fragte mich, ob er zu mir ins Büro kommen dürfe. Selbstverständlich bejahte ich seine Frage. Kurz darauf sass mir ein stark niedergeschlagener Junge gegenüber. Blerim schilderte mir, was vorgefallen war und der folgende Satz von ihm brannte sich bei mir fest ein: «Wüssed Sie, es fühlt sich jetzt grad so ah, wie wenn die grossi Flamme, wo i mir brännt het, zum erste Mal chliner worde isch.»

Ich konnte gut nachvollziehen, wie Blerim sich fühlte. Ich wusste, wie wichtig es in solchen Momenten für Jugendliche sein kann, ihnen weiterhin Mut und Zuversicht zuzusprechen. Dies tat ich auch bei Blerim. Innerlich litt aber mein Herz aufgrund des Mitgefühls, was ich mir jedoch nicht anmerken liess.

Mittlerweile sah ich von meinem Bürostuhl wie weiche Schneeflocken langsam vom Himmel auf den Pausenplatz herunterfielen. Zwischen ihnen stand Blerim, der mir einen prüfenden Blick zuwarf, um einzuschätzen, ob ich gerade Zeit habe. Obwohl ich eigentlich keine Zeit hatte, nahm ich sie mir trotzdem. Blerim kam näher, ich öffnete das Fenster und er erzählte. Er konnte in der Zwischenzeit in anderen Betrieben Kurzpraktikas absolvieren. Auch dort schaffte er es jedes Mal in die Endauswahl. Irgend etwas, so schien es ihm, war jedoch jeweils anders. Blerim offenbarte mir, dass er sich an diesen Orten nicht so akzeptiert und deshalb auch nicht so wohl fühlte.

Ich fragte ihn, ob er sich denn erklären könne, woran es liegt, dass er immer bis in die Endrunde kommt und es dann doch nicht klappte. Blerim zuckte mit den Schultern. Von den analytischen Probetests, die er jeweils in den Betrieben machen musste, erreicht er von 100 Maximalpunkten stets mindestens 90. Auch die Bewertungen für sein Verhalten während der Probetage fielen immer sehr gut aus. Er seufzt und meint zu mir: «Aber Sie ja, niemert isch perfekt…»

Nach einer kurzen Pause fügt er an: «Ich frög mich, obs mit mim Name zämehängt. Blerim Beqiri. Villicht hättet d’Betrieb eifach lieber en Thomas Müller oder en Mörgeli.» Wir lachten beide herzhaft. Innerlich fiel mir ein grosser Stein vom Herzen, als ich merkte, dass Blerim seinen Humor und seinen Optimismus doch noch nicht verloren hatte. Dann fügte er noch an: «Wüssed Sie, ich bin ja aber au vo da. Ich bin da gebore und fühl mich da dihai.»

Durch das Fenster sah ich, wie die Knospen der frischen Blüten in ihren Startlöchern standen. Es roch bereits überall nach Frühling. Blerim hatte noch rund drei Monate, bis seine obligatorische Schulzeit zu Ende war. Meine Gedanken kreisten auch um die vielen anderen Schüler:innen in der gleichen Situation und um die Studien, die klar aufzeigen, dass rassistische Diskriminierung Jugendliche mit Migrationsbiografie, die beispielsweise dem Familiennamen entnommen wird, strukturell benachteiligt, wodurch eine Chancenungleichheit auf dem Lehrstellenmarkt herrscht. So müssen beispielsweise Jugendliche mit Migrationsbiografie bis zu 30% mehr Bewerbungen schreiben bis sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden, als Jugendliche ohne eine Migrationsbiografie.1

Da mir solche Geschichten zu genüge bekannt sind und ich ebenfalls weiss, was es bedeutet aufgrund eines nicht schweizerisch klingenden Namens gewisse Erfahrungen zu machen, fokussiere ich mich von Fensterbesuch zu Fensterbesuch umso mehr darauf, Blerim Mut zu machen und ihm zu signalisieren nicht aufzugeben.

Denn der Frühling ging langsam zu Ende, die Temperaturen draussen stiegen von Tag zu Tag und Blerims Hoffnung und somit auch seine innere Flamme, wie er sie nannte, wurde immer kleiner und kleiner. Mich überkam zwischenzeitlich kurz die Angst, dass er alles an den Nagel hängt. Blerim konnte sich bis dato bei zwölf unterschiedlichen Ingenieurbüros vorstellen, kam immer unter die letzten zwei Kandidat:innen für die jeweilige Lehrstelle und erhielt dann trotzdem eine Absage nach der Anderen. «Mini Flamme isch jetzt grad nur no e chlini Gluet», sagte er mir irgendwann mal mit sehr bedrückter Stimme am Fenster.

Blerim sah sich gezwungen, nochmals auf seinen Alternativplan zu wechseln und bewarb sich wieder als Elektroniker, was er bereits ein Jahr zuvor in der Sek B tat. Es vergingen keine zwei Wochen und er hatte eine Lehrstelle in diesem Bereich gefunden. Die Sonne brannte an mein Bürofenster und auch das Gesicht von Blerim glich wieder mehr einem Sonnenschein, obwohl ich genau merke, dass er mit dieser Plan-B-Lösung nicht hundertprozentig zufrieden war. Er wäre nicht Blerim, wenn er nun nicht trotzdem noch weiter an seinem ursprünglichen Traum festhalten würde. Zwei Bewerbungen für eine Lehrstelle als Zeichner habe er noch offen, teilte er mir mit. Ich bewunderte ihn für seine Ausdauer.

Kurz vor dem Ende des Schuljahres klopft er hastig ans Fenster und teilt mir mit einem breitem Grinsen mit, dass er gute Neuigkeiten habe.

Blerim Beqiri hatte eine Lehrstelle als Zeichner gefunden. Zwei Jahre und über 120 Bewerbungen später, hat er die Chance erhalten, die er sich von Anfang an wünschte und für die er so hart arbeitete. Ich konnte es kaum fassen, jubelte ihm zu und gab ihm ein High Five. Mir kommt es vor, als ob auch alle Vögel rundherum mit ihrem lauten Gezwitscher eine kleine Party mit uns feierten.

Bei einem unserer letzten Gespräche am Fenster in der Woche vor den Sommerferien bin ich wehmütig, dass diese Besuche bald zu Ende gehen würden. Zugleich freute ich mich auch sehr für Blerim, darf er schon bald seine Wunschlehrstelle antreten.

Zwei Jahre später – es ist das Jahr 2022, kurz nach den Sommerferien. Blerims Name erscheint auf meinem Handydisplay. Wir sind mittlerweile «per Du» und er klingt durch die Freisprechanlage seines Autos noch fröhlicher und auch ein bisschen erwachsener als beim letzten Mal an meinem Fenster. Blerim erzählt und sagt voller Lebensfreude: «Sie, äh du, es gaht mir sehr guet. Ich han en 5-6 im Schnitt und bin immer no am gliche Ort ide Lehr, wo’s mir würkli voll gfallt.» Ich frage Blerim, ob er rückblickend sagen könne, was ihn schlussendlich doch an sein Ziel brachte.

Er antwortet mit bedachter Stimme: «Es isch mir bewusst worde, wie fest es sich lohnt dra z’blibe, au wenn dir Mensche s’Gfühl gebed, du schaffsch das nöd. Ich wott drum vor allem de junge Lüüt da usse säge: Glaub immer a dich und lueg das dis innere Füür nie us gha wird.»

1 Im Working Paper «Do Swiss Citizens of Immigrant Origin Face Hiring Discrimination in the Labour Market?» untersuchten Eva Zschirnt (European University Institute) und Rosita Fibbi (Swiss Forum for Migration and Population Studies) die Diskriminierung von Menschen mit einer familiären Migrationsgeschichte auf dem Schweizer Arbeitsmarkt.