Nur Applaus reicht (fast) nie
Viele von uns standen während der Corona-Pandemie mindestens einmal am Fenster oder auf dem Balkon und haben geklatscht. Gemeinsam. Laut. Nicht bloss ein kurzes „Bravo“, sondern minutenlang. Wir wollten dem Pflegepersonal zeigen: Wir stehen hinter euch. Wir sehen euch. Wir haben Respekt vor eurer Arbeit – und wir sind solidarisch. Auch wenn wir nicht genau wussten, wie es in den Spitälern wirklich aussieht und abläuft, wollten wir zumindest ein Zeichen setzen. Der Applaus fühlte sich für uns richtig an. Und ein wenig tröstlich – gegen das eigene Ohnmachtsgefühl.
Nur: Mit diesem Applaus konnte das Pflegepersonal ehrlich gesagt wohl wenig anfangen. An den Arbeitsbedingungen änderte sich nichts. Eine Lohnerhöhung brachte er nicht. Und auch sonst blieb vieles beim Alten. Ausser vielleicht, dass die Pflegenden uns Klatschenden – zumindest für eine Weile – nun dankbar sein sollten. Für eben diesen Applaus. Und womöglich auch, dass sie uns bitte nicht weiter mit ihren Forderungen nach Verbesserungen „nerven“. Immerhin hatten wir ja für sie laut und ziemlich lange geklatscht.
Bei der Vielfalt sieht es leider nicht anders aus.
Auch ihr wird gerne applaudiert. Es gibt schöne Worte, bunte Broschüren, festliche Panels. Doch wenn es konkret wird – wenn es um Macht, Verantwortung und Mitbestimmung geht – wird es ganz leise. Vielfalt ist willkommen, solange sie nicht stört. Solange sie die Sitzung nur vorbereitet, beim Apéro serviert oder den Raum am Ende reinigt. Aber wehe, sie stellt Ansprüche auf echte Mitgestaltung. Dann wird’s rasch unbequem.
Dabei wäre genau das längst überfällig.
Zürich ist vielfältig. Diese Realität zeigt sich jeden Tag: auf den Strassen, im Tram, an den Briefkästen unserer Nachbar:innen, in den Klassenzimmern unserer Schulen. Sie zeigt sich in den Läden, auf Spielplätzen, in Kulturhäusern, an Hochschulen und in den städtischen Spitälern. Zürich ist nicht nur die vielfältigste Stadt der Schweiz – sie gehört auch zu den lebenswertesten der Welt. Nicht trotz, sondern auch wegen dieser Vielfalt. Weil sie unsere Stadt lebendig, offen und zukunftsfähig macht.
Doch dort, wo entschieden wird, bleibt diese Vielfalt letztlich dann vor der Tür. Symbolisch im Wartezimmer – faktisch strukturell ausgeschlossen. Oder gar nicht erst eingeladen.
Dabei müsste sie längst selbstverständlich sein. Sie widerspiegelt die Mehrheit der Zürcher:innen und damit streng genommen eigentlich die Norm. Vielfalt ist die Realität beziehungsweise müsste es überall sein. Wer Zürich gestalten will, sollte Zürich auch abbilden – ganz. Mit allen Perspektiven, Biografien, Widersprüchen und Geschichten, die diese Stadt prägen. Mit einer Bevölkerung, die längst vielfältiger ist als die Gremien, die über sie bestimmen.
Vielfalt ist kein „Nice-to-have“ für Wahlflyer oder Parteiprogramme. Sie ist kein Feigenblatt für progressive Imagepflege. Sie ist die Grundlage für gerechte, reflektierte und lebensnahe Entscheidungen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Damit nicht mehr über Menschen gesprochen wird, sondern mit ihnen. Damit Lösungen nicht mehr an der Realität vorbeigehen, sondern aus ihr heraus entstehen.
Denn wer in dieser Stadt lebt, sich einbringt und mitträgt, aber nie mitentscheiden darf, verliert irgendwann das Vertrauen. Wer immer nur hört, man komme „später auch mal dran“, wendet sich ab. Und wer aktiv mitgestalten will, aber nie eingeladen wird, verliert irgendwann die Geduld.
Genau das untergräbt, was unsere Gesellschaft eigentlich stärken sollte: Vertrauen. Zusammenhalt. Empathie.
Es braucht keine Symbolpolitik. Es braucht Strukturen, die Vielfalt nicht nur aushalten, sondern fördern. Räume, in denen neue Stimmen gehört – und ernst genommen – werden. Und es braucht den politischen Willen, genau das möglich zu machen. Nicht irgendwann. Sondern jetzt.
Zürich wäre bereit dafür. Ja, Züri isch parat. Das hat die gleichnamige Bewegung deutlich gezeigt – eine Bewegung, mit der sich in kürzester Zeit viele Zürcher:innen identifizierten, besonders jene mit Migrationsbiografie. 66,9 % der Menschen in Zürich haben mindestens einen im Ausland geborenen Elternteil – und viele von ihnen sind in der Stadtpolitik bislang kaum vertreten.
Zürich ist parat für mehr – für mehr Gerechtigkeit, mehr Vielfalt und eine Stadtregierung, die das auch sichtbar macht.
Auch für Mandy Abou Shoak wurde während ihres parteiinternen Wahlkampfs um die SP-Nomination für den Stadtrat und das Stadtpräsidium viel geklatscht. Dass dies auffiel, zeigen nicht zuletzt die Berichte im Tages-Anzeiger und in der NZZ, die den Applaus anlässlich des öffentlichen Hearings sowie bei der Delegiertenversammlung ausdrücklich erwähnten.
Doch als es zählte, zählte dieser Applaus plötzlich nichts mehr. Von 230 wahlberechtigten SP-Delegierten entschieden sich 133 gegen Mandy Abou Shoak. Zu viele gaben ihr also nicht ihre Stimme – als sie im Geheimen den Namen ihrer bevorzugten Person auf den Wahlzettel schrieben. Die Möglichkeit, sich nach der Bestimmung des Stadtratstickets auch noch vor ihrer eigenen Partei fürs Stadtpräsidium zu präsentieren, wurde Mandy Abou Shoak dadurch verwehrt. Für sie heisst es also: wieder Platz nehmen im Wartezimmer – wo Vielfalt zwar gerne beklatscht wird, aber kaum je Verantwortung erhält. Und natürlich danke sagen. Für den lauten Applaus. Und für die schönen Worte.
Die Tür zum Präsidium stand scheinbar auch für jemanden wie Mandy Abou Shoak einen Moment lang offen – hindurchgeführt wurde aber jemand anderes. Ironischerweise per Akklamation. Also klatschend – ohne Abstimmung. Hier reichte der Applaus dann plötzlich doch. Und so wurde Raphael Golta von den Delegierten seiner und Mandy Abou Shoaks Partei auf das Stadtpräsidiumsticket gesetzt, ohne sich an diesem Abend ihnen überhaupt präsentiert haben zu müssen. Ohne in einer Rede seine Vision für Zürich erzählt und sich daraufhin Fragen dazu gestellt haben zu müssen. Ohne, dass – wie es das SP-Wahlreglement bei mehreren Bewerber:innen vorsieht – zwei Fürsprecher:innen seine Qualitäten und Fähigkeiten betonen mussten. Er war der letzte verbliebene Bewerber – und damit gesetzt. So hat hier ausnahmsweise Applaus tatsächlich doch mal gereicht. Auch wenn dieser spürbar leiser war als jener für Mandy Abou Shoak. Wobei bei ihr unter anderem auch noch die Vielfalt beklatscht wurde.
Mit der Nicht-Nominierung von Mandy Abou Shoak bleibt der grossen Vielfalt Zürichs fast die Hälfte der Sitze im Stadtrat (4 von 9) und ein Platz im Stadtpräsidium für viele weitere Jahre verwehrt. Das ist nicht nur ein verpasstes Signal. Es ist eine vertane Chance.
Und das ausgerechnet von einer Partei, die sich für Chancengleichheit stark macht. Die verspricht, für alle da zu sein – nicht nur für wenige. Wenn nicht sie, wer dann?
Dass diese Entscheidung Mut gebraucht hätte, steht ausser Frage. Genauso wie es Mut braucht, sich als marginalisierte Person zur Wahl zu stellen – bei all dem Hass, der einem dabei entgegenschlägt. Und ja, es braucht auch Mut, Macht zu teilen.
Zürich hätte diesen Mut. Mandy Abou Shoak auch. Jetzt braucht es ihn nur noch von jenen, die ihn bisher noch nicht aufgebracht haben.
Dembah Fofanah lebt in Zürich und ist Mitgründer des Kollektiv Vo da. Er initiierte mit einigen Freund:innen das unabhängige Unterstützungskomitee ZÜRI ISCH PARAT, das sich für einen echten Wandel in der Stadtpolitik stark macht sowie Mandy Abou Shoaks Kandidatur als Stadträtin und Stadtpräsidentin unterstützte.