Rassismusbericht 2022: Nachgefragt bei humanrights.ch

So wie bereits 2021, als auch 2022 haben wir erneut die Chance erhalten der Organisation humanrights.ch einige Fragen zum neu veröffentlichten Bericht «Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit 2022» zu stellen. Der jährlich erscheinende Bericht ist das Resultat der Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR und enthält Daten aus der täglichen Arbeit der 23 schweizweit geführten Beratungsstellen, die dem von humanrights.ch geleiteten «Beratungsnetz für Rassismusopfer» angeschlossen sind.


Unsere Fragen wurden beantwortet von Gina Vega, die in ihrer Rolle als Leiterin Fachstelle Diskriminierung und Rassismus und «Beratungsnetz für Rassismusopfer» bei humanrights.ch die redaktionelle Leitung und die Analyse- und Koordinationsarbeit des Rassismusberichts verantwortet.


Der grösste Anteil eurer Dienstleistungen behandelt die Auskunft, sowie die psychosoziale Beratung bei den gemeldeten Fällen. Nur in den wenigsten Fällen findet eine Mediation oder gar Intervention statt.
Gibt es mögliche Gründe, weshalb die letzten beiden Dienstleistungen vermindert in Anspruch genommen werden?


Gina Vega (humanrights.ch): Die Vorgehensmöglichkeiten bei Vorfällen rassistischer Diskriminierung sind sehr unterschiedlich und hängen immer vom Wunsch und der individuellen Situation der betroffenen Person ab. Wenn die betroffenen Personen sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden, müssen Wege gefunden werden, gegen die Diskriminierung vorzugehen, die sich nicht zum Nachteil der Betroffenen auswirkt. Ebenso ist es für Betroffene sehr belastend gegen eine Diskriminierung vorzugehen und viele sehen von einer Intervention ab.
Meistens wünschen sich Betroffene eher eine unterstützende Dienstleistung der Beratungsstelle, beispielsweise das Verfassen von Briefen oder Beschwerden sowie das Anfordern einer Stellungnahme mit der Aufforderung zur Verbesserung der Situation.

Die überwiegende Mehrheit der registrierten Vorfälle vergangenes Jahr fand im öffentlichen Rahmen von Institutionen, Staat und Arbeitsplatz statt. Somit ist Rassismus klar ein strukturelles Problem in der Schweiz und nicht einzig Sache der Direktbetroffenen.
Welche Handlungs- oder Denkansätze gilt es somit eurer Meinung nach für öffentliche und private Institutionen zu ändern oder zumindest zu reflektieren?


Gina Vega: In der Oberkategorie Organisationen, Institutionen und Privatwirtschaft befinden sich die Bereiche Arbeit, Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie Bildung. Hier müssen endlich Organisationen, Betriebe, Arbeitsverbände und Bildungsinstitutionen rassistische Diskriminierung als ernsthaftes Problem wahrnehmen. Sie müssen sich vermehrt und kontinuierlich mit diesem Thema auseinandersetzen, ihre Prozesse und Praktiken überprüfen sowie Strategien zur Prävention entwickeln, um Benachteiligungen zu verhindern.
Zum Beispiel im Bereich der Wohnungsmarkt braucht es transparentere Vermietungs- und Vergabeprozesse, Sensibilisierungsarbeit gekoppelt mit der Aus- und Weiterbildung des Personals, niedrigschwellige Kommunikation und Information sowie Massnahmen für einen einfacheren Zugang zu Wohnraum für benachteiligte Menschen.
Für einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Lehrstellen braucht es die Eliminierung von diskriminierenden Rekrutierungs- und Einstellungsverfahren, die Anforderungsprofile sollten klar und transparent formuliert werden und nur Kriterien, die für die Ausübung der Tätigkeit relevant sind, sollten eine Rolle spielen.
Antirassismus ist kein linearer Prozess mit klarem Anfang und Ende und muss kontinuierlich reflektiert und vorangebracht werden. Umso wichtiger ist ein breites und tiefes Engagement.

Zwar wird die Mehrheit der registrierten Vorfälle von den Direktbetroffenen selbst gemeldet. Allerdings bemerkt ihr im Bericht, dass eine Zunahme an Meldungen von Angehörigen von Betroffenen, sowie Zeug:innen und Fachpersonen zu erkennen ist.
Habt ihr eine Annahmen, woher dieser Trend kommt und ist er für eure Arbeit begrüssenswert?


Gina Vega: Die Steigerung von Meldungen von Menschen, die indirekt von Rassismuserfahrungen betroffen sind, zeigt, dass die Relevanz des Themas in der Schweizer Gesellschaft vermehrt wahrgenommen wird. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privatleben wird breiter über Rassismus diskutiert und das Thema hat an Sichtbarkeit gewonnen. In vielen Kreisen der Schweizer Gesellschaft wird Rassismus nicht mehr als Ausnahmeerscheinung betrachtet. Es beschäftigt viele Menschen – auch indirekt Betroffene – sowohl emotional als auch politisch und sozial. Langsam wird ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Rassismus uns alle etwas angeht und dass dieser die Realität der Gesamtgesellschaft prägt. Dies führt dazu, dass vermehrt Zeug:innen und Fachpersonen sich über Handlungsoptionen im Umgang mit Rassismus informieren möchten, damit sie aktiv dagegen vorgehen können. Diese Art der Verbundenheit und Solidarisierung begrüssen wir sehr und möchten wir weiter unterstützen. Die Beratungsstellen zeigen Handlungsmöglichkeiten auf, bieten einen Reflexionsraum und bestärken Menschen, sich für eine antirassistische Gesellschaft einzusetzen.

In eurer Analyse zur regionalen Herkunft der betroffenen Personen bemerkt ihr, dass häufig auch Menschen mit Schweizer Herkunft als «fremd» wahrgenommen werden und Menschen auch mit «kulturalisierten Vorstellungen von zugeschriebenen ethnischen oder kulturellen Differenzen konfrontiert werden».
Wie ist dies konkret zu verstehen?


Gina Vega: Der Schweizer Pass oder eine Schweizer Herkunft schützt nicht vor rassistischer Diskriminierung. Mit oder ohne Schweizer Staatsbürgerschaft werden Betroffene aufgrund ihres Namens, ihrer Hautfarbe, Religion oder einer Doppelbürgerschaft rassifiziert und mit historisch gewachsenen, undifferenzierten sowie stigmatisierenden Vorstellungen von «Andersartigkeit» und «Fremdheit» konfrontiert. Diese finden sich auf individueller, institutioneller und struktureller Ebene in Denk- und Einstellungsmustern, Wissensbeständen, Sprache und Grundhaltungen wieder, die zu rassistischen Handlungen und Benachteiligung führen. Auch über Generationen hinweg lassen sich Grundhaltungen in der Gesellschaft aufgrund von Fremdzuschreibungen und Rassifizierung beobachten. So wird uns häufig unsere Zugehörigkeit zur Schweiz abgesprochen und zugeschriebene Differenzen werden uns vor Augen geführt. Diese konstante indirekte oder direkte Konfrontation mit Fremdzuschreibungen steht nicht im Zusammenhang mit unserem eigenen Selbstbild. Uns dem entgegenzustellen, kostet uns immer wieder viel Zeit, Kraft und Energie. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir uns weiterhin Gehör und Sichtbarkeit verschaffen und für unser Recht auf eine diskriminierungsfreie Gesellschaft kämpfen.

In eurem Bericht sprecht ihr nicht nur über rassistische Handlungen oder Haltungen, sondern auch von «unsichtbaren Strukturen» und «institutionellen Dimensionen». Kannst du für unsere Leserschaft klarer erörtern, wovon hier die Rede ist?

Gina Vega: Rassismus umfasst viel mehr als nur explizite oder subtile rassistische Handlungen und Überzeugungen, die sich in einem interpersonellen Kontakt äussern können. Rassismus ist tief in den Strukturen und Institutionen unserer Gesellschaft verankert. Die strukturellen und institutionellen Dimensionen von Rassismus gehen über die individuellen Einstellungen und das individuelle Handeln Einzelner hinaus. Es geht hier um institutionalisierte Praktiken, Regeln, Wissensbestände und Abläufe, die in der Gesellschaft verankert sind. Diese bestimmen direkt und indirekt, wer welchen Zugang zu welchen Ressourcen hat, so dass bestimmte Menschen von vornherein benachteiligt werden und Ungleichheiten legitimiert und reproduziert werden.
Beispiele dafür sind, wenn kopftuchtragende Musliminnen von Stellen als Lehrpersonen oder mit Kundenkontakt ausgeschlossen werden; oder Menschen mit Migrationsgeschichte mehr Mühe haben zum Vorstellungsgespräch oder zur Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden; oder wenn ausländische und Schwarze Kinder in der Schule weniger gefördert und mit stereotypisierenden Vorstellungen konfrontiert werden.
Solche rassistischen Vorfälle in den Bereichen Arbeit, Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt halten sich beim Beratungsnetz konstant auf hohem Niveau. Sie werden als Normalität wahrgenommen und verlaufen unbewusst. Deshalb sind sie schwer nachweisbar und werden vor allem von Nicht-Betroffenen kaum hinterfragt.
Aufgrund dieser Tatsachen ist es für die Beratungsstellen eine Herausforderung, auf rassistische Vorfälle struktureller und institutioneller Art hinzuweisen und Veränderungen einzufordern. Sie sind auf die Bereitschaft der Institutionen angewiesen, sich mit der Thematik, den Abläufen, Regeln und Prozessen auseinanderzusetzen, um diese zu verändern. Mit unserem Bericht möchten wir versteckte Fälle von strukturellem und institutionellem Rassismus anhand von Zahlen und Fallbeispielen, die über den Einzelfall hinausgehen, sichtbar machen. Dies insbesondere auch, um die Gesamtgesellschaft dafür zu sensibilisieren.

In eurem Bericht sprecht ihr nicht nur über rassistische Handlungen oder Haltungen, sondern auch von «unsichtbaren Strukturen» und «institutionellen Dimensionen». Kannst du für unsere Leserschaft klarer erörtern, wovon hier die Rede ist?

Gina Vega: Rassismus umfasst viel mehr als nur explizite oder subtile rassistische Handlungen und Überzeugungen, die sich in einem interpersonellen Kontakt äussern können. Rassismus ist tief in den Strukturen und Institutionen unserer Gesellschaft verankert. Die strukturellen und institutionellen Dimensionen von Rassismus gehen über die individuellen Einstellungen und das individuelle Handeln Einzelner hinaus. Es geht hier um institutionalisierte Praktiken, Regeln, Wissensbestände und Abläufe, die in der Gesellschaft verankert sind. Diese bestimmen direkt und indirekt, wer welchen Zugang zu welchen Ressourcen hat, so dass bestimmte Menschen von vornherein benachteiligt werden und Ungleichheiten legitimiert und reproduziert werden.
Beispiele dafür sind, wenn kopftuchtragende Musliminnen von Stellen als Lehrpersonen oder mit Kundenkontakt ausgeschlossen werden; oder Menschen mit Migrationsgeschichte mehr Mühe haben zum Vorstellungsgespräch oder zur Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden; oder wenn ausländische und Schwarze Kinder in der Schule weniger gefördert und mit stereotypisierenden Vorstellungen konfrontiert werden.
Solche rassistischen Vorfälle in den Bereichen Arbeit, Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt halten sich beim Beratungsnetz konstant auf hohem Niveau. Sie werden als Normalität wahrgenommen und verlaufen unbewusst. Deshalb sind sie schwer nachweisbar und werden vor allem von Nicht-Betroffenen kaum hinterfragt.
Aufgrund dieser Tatsachen ist es für die Beratungsstellen eine Herausforderung, auf rassistische Vorfälle struktureller und institutioneller Art hinzuweisen und Veränderungen einzufordern. Sie sind auf die Bereitschaft der Institutionen angewiesen, sich mit der Thematik, den Abläufen, Regeln und Prozessen auseinanderzusetzen, um diese zu verändern. Mit unserem Bericht möchten wir versteckte Fälle von strukturellem und institutionellem Rassismus anhand von Zahlen und Fallbeispielen, die über den Einzelfall hinausgehen, sichtbar machen. Dies insbesondere auch, um die Gesamtgesellschaft dafür zu sensibilisieren.

Am zweithäufigsten ereignen sich rassistische Vorfälle gemäss eurem Bericht im Lebensbereich Bildung. Gemeinsam mit Rahel El-Maawi (Dozentin für Soziokultur, Social Justice Trainerin und Co-Autorin des Buchs «No to Racism – Grundlagen einer rassismuskritischen Schulkultur», hep Verlag, 2022) habt ihr euch dem Thema in eurem Bericht auch vertieft angenommen.
Wo seht ihr möglichen Handlungsbedarf für eine stärkere Sensibilisierung für und Bekämpfung von Rassismus im Bildungsbereich?


Hier stehen wir alle in der Verantwortung, für unsere Kinder und Jugendlichen eine diskriminierungsfreie schulische Bildung und Erziehung zu ermöglichen.
Vor allem Kantone, Schulen und Bildungsinstitutionen müssen entschiedener Massnahmen treffen, um Rassismus zu erkennen und aufzubrechen und Schüler:innen vor Diskriminierung zu schützen. Neben der regelmässigen Thematisierung in den Klassen, den gesamten Institutionen und den Eltern, ist es notwendig, dass die Schulen ein Antidiskriminierungskonzept zur Prävention vor und Intervention bei rassistischen Vorfällen ausarbeiten und verankern.
Ziel muss es sein, eine rassismusfreie Schulkultur zu etablieren. Rassismus muss ausserdem zwingend Bestandteil der Lehrpläne der pädagogischen Hochschulen und der Schüler:innen sein. Vor allem die Ausbildung der Lehrpersonen ist dringend notwendig, um Rassismus zu erkennen, dagegen vorzugehen und Betroffenen zu helfen. Voraussetzung dafür ist die Reflexion eigener Denk- und Handlungsmuster.
Auch ist es wichtig, dass das Unterrichtsmaterial und die Unterrichtsinhalte untersucht und reflektiert werden. Und letztens müssen wir Eltern, im Rahmen unserer Möglichkeiten oder mit Unterstützung einer Beratungsstelle, bei den Schulen unserer Kinder genau hinschauen, Veränderungen einfordern sowie unsere Kinder stärken und sie dazu ermutigen, ihre Rechte wahrzunehmen.

Ab der Primarschule ist das Schweizer Bildungssystem von einer Selektion geprägt, welche im Alter von zwölf Jahren nicht nur sehr früh stattfindet, sondern auch sehr stark von den Vorstellungen der Lehrpersonen über die Umstände des Kindes abhängig ist.
Inwiefern können rassistische Vorurteile hierbei eine tragende Rolle spielen und sogar helfen, rassistische Strukturen stärker zu festigen?


Es gibt unterschiedliche Erscheinungsformen von Diskriminierung in der Schule. Die direkte, Diskriminierung mit Beleidigungen, herabsetzenden Äusserungen, physischen Angriffen oder Mikroaggressionen, die von den Schüler:innen und/oder den Lehrpersonen ausgehen. Es gibt aber auch die indirekte Form der Diskriminierung, die sich trotz scheinbar neutralen Regeln, Kriterien oder Verfahren auf bestimmte Gruppen besonders nachteilig auswirken. Denn Vorannahmen und Vorurteilen können diese Regeln, Kriterien und Verfahren beeinflussen. Um vorherrschende Denkmuster und verfestigte Ungleichheitsstrukturen zu durchbrechen, braucht es eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Prozessen und Verfahren der Institution, eine kontinuierliche Reflexion der Denk- und Handlungsmuster des Schulpersonals sowie transparente Regelungen und Verfahren.

Die Beratungsstellen bieten unter anderem auch rechtliche Beratung an. Wie ist beispielsweise im Bildungsbereich die Rechtslage für Direktbetroffene, aber auch Lehrpersonen?

Es gibt unterschiedliche Regelungen, die Diskriminierung in der Schule verbieten. Schulen unterstehen dem Diskriminierungsverbot nach Artikel 8 Absatz 2 der Bundesverfassung. Auch können rassistische Verhaltensweisen wie Beschimpfungen, üble Nachrede, Verleumdung, Drohung oder Gewalt seitens der Schüler:innen oder Lehrpersonen, zivil- und strafrechtlich verfolgt werden. Die Antidiskriminierungsstrafnorm (Art. 261bis StGB) kann nur geltend gemacht werden, wenn sich der Vorfall in der Öffentlichkeit, z.B. auf dem Schulhof, ereignet hat. Vorfälle, die im Klassenzimmer passieren, gelten als privat und können nicht geahndet werden. Auch rassistische Vorfälle, die sich online ereignen (z.B. in Klassenchats), können je nach Konstellation strafbar sein. Schulen stehen zu dem in der Pflicht Schüler:innen vor jeglicher Art von rassistischen Vorfällen, Gewaltdelikten oder rassistisch motiviertem Mobbing zu schützen. Nichtsdestotrotz werden nur wenige Vorfälle an Schulen strafrechtlich verfolgt. Einerseits, weil die Beweislast zu hoch ist oder die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nicht erfüllt sind, und andererseits, weil Schüler:innen und Eltern in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Schule stehen, so dass oft von einer juristischen Intervention abgesehen wird.

Der Bericht «Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit 2022» kann hier heruntergeladen werden. Eine Übersicht aller bisherigen Berichte sowie eine Adressliste aller 23 Mitgliederstellen des Beratungsnetze findet sich auf www.network-racism.ch.

Wir können euch zudem einen Besuch auf der Informationsplattform von humanrights.ch sehr empfehlen. Darauf ist eine Vielzahl an lehrreichen Inhalten über Menschenrechte und das aktuelle Geschehen in der Schweiz aus menschenrechtlicher Perspektive zu finden.