Rassismusbericht 2023: Nachgefragt bei humanrights.ch
Nach den Jahren 2021, 2022 und 2023 haben wir auch dieses Jahr die Chance erhalten der Organisation humanrights.ch einige Fragen zum neu veröffentlichten Bericht “Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit 2023” zu stellen. Der jährlich erscheinende Bericht ist das Resultat der Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR und enthält Daten aus der täglichen Arbeit der 23 schweizweit geführten Beratungsstellen, die dem von humanrights.ch geleiteten “Beratungsnetz für Rassismusopfer” angeschlossen sind.
Unsere Fragen wurden beantwortet von Gina Vega, die in ihrer Rolle als Leiterin Fachstelle Diskriminierung und Rassismus und “Beratungsnetz für Rassismusopfer” bei humanrights.ch die redaktionelle Leitung und die Analyse- und Koordinationsarbeit des Rassismusberichts verantwortet und Dr. Giulia Reimann, Stv. Leiterin Sekretariat EKR und Verantwortliche für die Meldeplattform für rassistische Online-Hassrede www.reportonlineracism.ch.
In seiner 16. Auflage verzeichnet auch der diesjährige Rassismusbericht eine Zunahme an gemeldeten Fällen. Müssen wir davon ausgehen, dass Rassismus in der Schweizer Gesellschaft zunimmt oder gibt es auch andere Erklärungen für diesen Trend?
Gina Vega (humanrights.ch): Im Jahr 2023 haben sich so viele Menschen wie nie zuvor an das Beratungsnetz für Rassismusopfer gewandt. Insgesamt 856 Fälle rassistischer Diskriminierung haben die Beratungsstellen bearbeitet, 168 Fälle mehr als im Vorjahr. Das entspricht einer Zunahme von knapp 24% der Beratungsfälle. Dieser Anstieg ist auf gesellschaftliche Ereignisse im Laufe des Jahres zurückzuführen, die rassistische und antisemitische Dynamiken in der Schweizer Gesellschaft verstärkt haben. So haben antisemitische Vorfälle, insbesondere öffentlich geäusserte Hassreden, seit Beginn des Krieges im Nahen Osten markant zugenommen. Beratungsfälle aufgrund von antimuslimischem Rassismus, Rassismus gegen Menschen aus dem arabischen Raum sowie Ausländer*innen- und Fremdenfeindlichkeit stiegen ebenfalls an. Auch wandten sich zahlreiche Menschen, meist indirekt Betroffene, an das Beratungsnetz, um gegen die Verbreitung von Vorurteilen und diskriminierenden Inhalten im Rahmen der Wahlkampagnen vorzugehen. Dies zeigt eine steigende solidarische Mobilisierung, die für die Bewältigung und Bekämpfung von Rassismus von zentraler Bedeutung ist.
Nichtsdestotrotz ist es wichtig zu erwähnen, dass die Beratungsfälle nur ein Indikator für die Ausprägung von Rassismus in der Schweizer Gesellschaft darstellen. Personen, die sich an eine Beratungsstelle wenden, stellen immer noch nur einen kleinen Bruchteil der Betroffenen dar, und die Dunkelziffer bleibt hoch.
Nichtsdestotrotz ist es wichtig zu erwähnen, dass die Beratungsfälle nur ein Indikator für die Ausprägung von Rassismus in der Schweizer Gesellschaft darstellen. Personen, die sich an eine Beratungsstelle wenden, stellen immer noch nur einen kleinen Bruchteil der Betroffenen dar, und die Dunkelziffer bleibt hoch.
Einen verhältnismässig hohen Anstieg gab es im Anteil an sogenannten Mehrfachdiskriminierungen. Könntest du uns kurz erläutern, weshalb es wichtig ist diese intersektionale Form von Diskriminierung explizit zu benennen?
Gina Vega: Rassistische Diskriminierung verbindet und überschneidet sich häufig mit weiteren Benachteiligungsaspekten und Ausgrenzungsmerkmalen. Im Jahr 2023 stellten die Beratungsstellen in 485 Fällen bzw. in mindestens jedem zweiten Beratungsfall zusätzlich zur rassistischen Diskriminierung eine Mehrfachdiskriminierung fest. Diese betraf überwiegend den Rechtsstatus, das Geschlecht sowie die soziale Stellung. Diese Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen hat eine besondere Betroffenheit zur Folge. In der Beratung ist es deshalb unerlässlich, die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionierungen sowie Abhängigkeits- und Machtverhältnissen zu berücksichtigen, um den von den Betroffenen erlebten Realitäten der Diskriminierung gerecht zu werden und Betroffene gezielt unterstützen zu können. Darüber hinaus, wenn wir die Verschränkungen rassistischer Erfahrungen mit anderen Diskriminierungsformen aufzeigen und benennen, machen wir gleichzeitig auf Formen struktureller und institutioneller Benachteiligungen aufmerksam. So zum Beispiel, wenn Menschen im Asylwesen aufgrund ihrer rechtlichen und sozialen Stellung in der Gesellschaft mehr Einschränkungen im Zusammenhang mit dem Zugang zu Ressourcen wie Arbeit, Wohnen und Bildung haben.
Rassismus im Bildungssystem war das Schwerpunktthema des Rassismusbericht 2022 und nun im Folgejahr sehen wir eine Verdopplung der Meldungen von Personen unter 16 Jahren. Welche Hilfe kann hier das Beratungsnetz leisten und was für zusätzliche Massnahmen empfehlt ihr?
Gina Vega: Das Bildungswesen war im Jahr 2023 mit 181 Fällen der am stärksten betroffene Lebensbereich. Hier steigen die Meldungen von Jahr zu Jahr stetig an und betreffen meist die obligatorische Schule, weshalb auch die Zahl der betroffenen Personen unter 16 Jahren sich verdoppelt hat. Die Beratungsstellen unterstützen sowohl betroffene Schüler*innen und ihre Angehörigen als auch Lehr- und Schulpersonal dabei, die Vorfälle einzuordnen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Empowerment der betroffenen Schüler*innen und der Verbesserung ihrer Situation. Mit Interventionen und unterstützenden Dienstleistungen machen sie zugleich auf Praktiken und Abläufe der Institutionen aufmerksam, die Diskriminierung und Rassismus (re)produzieren und begünstigen. Sie stellen Materialen zur Verfügung, führen Weiterbildungen oder Klasseninterventionen durch und vernetzen die Bildungsinstitutionen mit weiteren Expert*innen. Veränderungen in der Situation von Betroffenen können jedoch nur erreicht werden, wenn die Institutionen dies zulassen. Beispielsweise, wenn Rassismus und Diskriminierung nicht mehr tabuisiert oder verleugnet werden und dezidiert dagegen vorgegangen wird. Es tut sich einiges in vielen Bildungsinstitutionen mit Sensibilisierungsprojekten, Weiterbildungen und Veranstaltungen zum Thema. Leider fehlt jedoch weiterhin eine vollständige Institutionalisierung und Systematisierung im Umgang mit Rassismus und Diskriminierung als auch die Bereitstellung von Instrumenten zur Prävention und Intervention für das gesamte Schulpersonal sowie von langfristigen finanziellen und personellen Ressourcen. Hier muss noch viel von Bildungsverantwortlichen und der Gesamtgesellschaft unternommen werden, um eine inklusive, respektvolle und chancengerechte Schulkultur zu schaffen und eine bessere Zukunft für unsere Kinder und Jugendliche zu ermöglichen.
Rechtspopulismus hat nicht nur weltweit eine besorgniserregende Zunahme erfahren, sondern auch gemäss euren statistischen Erhebungen in der Schweiz. In einem Kapitel des Rassismusberichts widmet sich Professor Nenad Stojanović konkret den Folgen und Zusammenhängen von rechtspopulistischer Propaganda. Könntest du unserem Publikum einen kurzen Einblick in seine Erkenntnisse geben und aufklären inwiefern alle in der schweizerischen Bevölkerung das Recht haben gegen rassistische Diskriminierung beispielsweise im öffentlichen Wahlkampf vorzugehen?
Gina Vega: In seinem Beitrag zeigt Professor Nenad Stojanović, wie rassistische und diskriminierende politische Kampagnen negative Auswirkungen auf das Zusammenleben und den Zusammenhalt in der Gesellschaft haben. So werden gewisse Bevölkerungsgruppen in diesen Kampagnen mit einer hetzerischen Narrative instrumentalisiert. Dadurch verstärken sie negative Stereotypen und die Angst vor Unsicherheit und schaffen ein feindseliges Klima, um Wählerschaft zu mobilisieren.
Der Wahlkampf in der Schweiz ist eine offene Plattform für populistische Propaganda. Gewisse Parteien wählen bewusst rassistische und fremdenfeindliche Themen und Inhalte und präsentieren diese ohne grossen Widerstand. Bis jetzt wurden vom Staat und der Politik wenige besondere Massnahmen zur Bekämpfung rassistischer oder fremdenfeindlicher politischer Kampagnen ergriffen. Es ist daher an der Zeit, dass sie die Verantwortung zur Verhinderung und Verurteilung rassistischer Wahlpropaganda übernehmen und dezidiert gegen Narrative und Handlungen vorgehen, die ganze Bevölkerungsgruppen problematisieren, unter Generalverdacht stellen und benachteiligen.
Die Meldungen im Rahmen der Wahlkampagnen in 2023 zeigen, dass zahlreiche Menschen solche diskriminierende Inhalte ablehnen. Dies ist sehr wichtig, denn wir alle haben das Recht, gegen rassistische Diskriminierung im öffentlichen Wahlkampf vorzugehen. Auch wenn die juristischen Instrumente teilweise zu kurz greifen, können und sollen wir auf diskriminierende Äusserungen, Inhalte und Handlungen hinweisen, sie anprangern und öffentlich klarstellen, dass wir diese nicht akzeptieren und tolerieren.
Nach der Etablierung der Meldeplattform für rassistische Online-Hassrede im Jahre 2021 war das vergangen Jahr somit das zweite ganze Jahr von www.reportonlineracism.ch.
Welche Entwicklung könnt ihr feststellen und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es nach der Meldung eines Vorfalls?
Gina Vega: Ich lasse gerne diese Frage von meiner Kollegin Dr. Giulia Reiman der EKR beantworten. Sie ist für die Plattform zuständig.
Dr. Giulia Reimann (Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, EKR): 2023 wurden insgesamt 191 rassistische Inhalte gemeldet, das sind 28 mehr als im Jahr zuvor. Am häufigsten wurden rassistische Inhalte gegen Schwarze Menschen gemeldet (56), gefolgt von antisemitischen Inhalten (51). In beiden Fällen ist dies mehr als im Jahr zuvor (38 bzw. 23). Zugenommen haben auch die Meldungen von antimuslimischem Rassismus (27 im Vergleich zu 16 im 2022). Leicht zurückgegangen sind dagegen Meldungen fremdenfeindlicher Kommentare, die nicht auf eine spezifische Herkunft oder Religion abzielen sowie Hasskommentare, die sich gegen geflüchtete oder asylsuchende Personen richten (insgesamt 52 im Vergleich zu 60 im 2022). Diese Veränderungen zeigen unter anderem, dass sich gesellschaftliche und politische Ereignisse in der Regel schnell in der Art von Hassrede im Internet niederschlagen. Ähnlich wie im Jahr zuvor wurden am meisten Inhalte in Kommentarspalten von Online-Medien gemeldet (46), gefolgt von Facebook und Twitter/X (je 44). 2023 gingen auch mehr Meldungen zu Inhalten auf Instagram (21) und Tiktok (8) ein.
Die EKR macht eine Ersteinschätzung über die strafrechtliche Relevanz und erstattet in klaren Fällen mit Schweiz-Bezug Anzeige nach Art. 261bis StGB. Antragsdelikte (z.B. Ehrverletzungen) kann die EKR nicht anzeigen, sie unterstützt jedoch nach Bedarf die geschädigten Personen dabei. Die EKR bietet auf Wunsch auch Beratung an oder leitet die Ratsuchenden an andere Beratungs- und Fachstellen weiter. Nach schweizerischem Recht war 2023 rund ein Drittel der Meldungen (67) strafrechtlich relevant (im Vergleich zu einem Viertel im Vorjahr). Von diesen wurden 14 Inhalte den Strafverfolgungsbehörden angezeigt (knapp doppelt so viele wie im Vorjahr). Die restlichen hatten entweder keinen Schweiz-Bezug, der Account war bereits gelöscht oder es handelte sich um Antragsdelikte, die nur die geschädigte Person selber anzeigen kann. Sind die Inhalte nicht strafrechtlich relevant, so können sie den Plattformen selbst gemeldet werden. Die EKR arbeitet hier auch mit Partner*innen zusammen, die über einen sog. “trusted flagger” Status bei den Plattformen verfügen, d.h. deren Meldungen prioritär behandelt werden.
Der Bericht “Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit 2023” kann hier heruntergeladen werden. Eine Übersicht aller bisherigen Berichte sowie eine Adressliste aller 23 Mitgliederstellen des Beratungsnetze findet sich auf www.network-racism.ch.
Wir können euch zudem einen Besuch auf der Informationsplattform von humanrights.ch sehr empfehlen. Darauf ist eine Vielzahl an lehrreichen Inhalten über Menschenrechte und das aktuelle Geschehen in der Schweiz aus menschenrechtlicher Perspektive zu finden.