Stimme Vo da. zum Migros Magazin

Vor zwei Wochen wandten wir uns in einem Offenen Brief an die Migros. Darin verlangten wir Antworten auf einige Fragen zu den rassistisch diskriminierenden Artikeln des, wie die Migros auf Social Media selbst schreibt, «vergeigten» Magazin-Specials «From Balkan with Love». Wir wollten u.a. wissen, wie es dazu kommen konnte, dass solche Stereotypisierungen publiziert wurden, welche Lehren daraus gezogen wurden und was verbessert wird, um einen Wiederholungsfall zu vermeiden.

Keine einzige davon schien wichtig genug, um sie zu beantworten. Es wurde keine offizielle Stellungnahme verfasst. Alle Artikel sind nach wie vor online verfügbar.

Dieses Verhalten der Migros möchten wir nicht unkommentiert lassen. Deshalb haben wir einige «Stimme Vo da.» von direkt betroffenen Menschen im Umfeld unseres Kollektivs gesammelt. Zusammen mit einem weiteren Schreiben liessen wir diese fünf Stimmen Ursula Nold, der Präsidentin der Verwaltung des Migros-Genossenschafts-Bunds, zukommen.

«Ignoranz finde ich persönlich schlimmer als eine Antwort zu erhalten, mit der ich mich nicht zufriedenstellen würde.»
Stimm Vo da. #1

Die Ignoranz der Migros erstaunt mich. Auch ich bin Genossenschafterin der Migros und habe ebenfalls das Migros Magazin 1x wöchentlich im Briefkasten. Die Titelseite und die Artikel, die zum Thema Balkan geschrieben wurden, haben mich und viele weitere verletzt. Wieder einmal mehr muss ich, und viele andere, lesen, wie wir auf Klischees heruntergebrochen und mit ausgewählten Merkmalen stereotypisiert werden. Das ist rassistisches Handeln! Die Menschen mit „sie“ und „uns“ zu trennen ist rassistisch. Unsere Grosseltern, Eltern und wir sind alle „sie“ und „uns“, denn wir leben alle in der Schweiz und sind auch Schweizer*innen. Hört endlich auf uns zu trennen! Diese Spaltung erschwert uns jedes Mal das Gefühl der Zugehörigkeit! Dadurch, dass die Migros bis heute (14.07.2020) noch nichts unternommen hat, um sich dem zu stellen und dies einfach so stehen lässt, ignoriert sie die Stimmen ihrer Leser*innen. Ignoranz finde ich persönlich schlimmer als eine Antwort zu erhalten, mit der ich mich nicht zufriedenstellen würde.

«Jedes Mal, wenn so etwas wie Ihre Ausgabe ‹passiert›, wird uns erneut die Tür vor der Nase zugeschlagen.»
Stimm Vo da. #2

Ist es Ihnen schon Mal passiert, dass Sie im Bus an den Bahnhof gefahren sind und es ziemlich knapp für Ihren Anschluss wurde? Kennen Sie dieses Gefühl, wenn der Bus sich dem Bahnhof nähert und nur noch 1 Minute bleibt, bis Ihr Zug abfahren wird? Sie denken sich: «Das schaffe ich! Ich muss einfach rennen.» Und kaum geht die Bustür auf, rennen Sie los, runter in die Unterführung. Die Tasche auf Ihren Schultern schleudert von links nach rechts. Sie versuchen nicht in die anderen Menschen zu laufen, die Ihnen gerade entgegenkommen. Fast ist es geschafft, nur noch zwei grosse Schritte. «Ich schaffe es!» und BOOOM – die Tür geht zu. Sie drücken noch auf den Knopf, aber die Zugtür ist zu. Keine Chance! Durch die Glasscheibe sehen Sie ein paar verdutzte Gesichter. Manche haben Mitleid, da Sie ziemlich ausser Atem sind und manche schauen Sie so an, als wollten sie sagen: «Selber schuld.» Dabei ist es genau genommen ja nicht Ihre Schuld, dass der Bus verspätet war, nicht wahr?
Die Person, die auf den Zug rennt, steht sinnbildlich für eine Gruppe von Menschen, die in Ihrer Ausgabe vom 15. Juni diskriminiert und beleidigt wurde. Ja, unsere Familien stammen u.a. aus Bosnien, Serbien oder aus Kosovo. Aber wir sind hier und wir rennen jeden Tag auf diesen verdammten «Zug», um dazuzugehören. Jedes Mal, wenn so etwas wie Ihre Ausgabe «passiert», wird uns erneut die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wir verlangen eine Erklärung! Es wurde nicht einfach nur «schlecht umgesetzt». Woher kommt diese Denkweise? Und wie stellen Sie sicher, dass diese dauerhaft aus Ihrer Redaktion verschwindet? Danke für eine Antwort!

«Obwohl die Migros zahlreiche negative Rückmeldungen erhalten hat, fehlt jede Spur von einem offiziellen Statement.»
Stimm Vo da. #3

Seit ich denken kann, kauft meine ganze Familie in der Migros ein. Sie war schon immer ein riesiger Bestandteil meiner Kindheit – unserem Familienleben – und birgt zahlreiche schöne Erinnerungen. Als das Special „From Balkan with Love“ veröffentlicht wurde, fühlte es sich an, als ob all diese Jahre treue Kundschaft auf einen Schlag weggeworfen wurden. In dieser Migros-Magazin-Ausgabe wurde ich, zusammen mit zahlreichen anderen direkt betroffenen, von den anderen Kunden gespaltet. Man hat mich als Aussenseiterin portraitiert. Es wurden Stereotypen auf mich projiziert, die keineswegs zustimmen. Als eine Person, die in der Schweiz geboren wurde, hier aufgewachsen ist und eine Schweizer Bildung genossen hat, ist dies ein Schlag ins Gesicht. Ich erlebe regelmässige Diskriminierung aufgrund meiner Herkunft. Jedoch ist es noch schlimmer, wenn es von einer riesigen Genossenschaft kommt, die eigentlich andere, bessere Werte anstrebt. Obwohl die Migros zahlreiche negative Rückmeldungen erhalten hat, fehlt jede Spur von einem offiziellen Statement, welches in einer Migros-Magazin-Ausgabe erklärt, was man falsch gemacht hat. Personen, die aus dem Balkan stammen und in der Schweiz ihren Lebensmittelpunkt haben, sind immer noch jeden Tag gewissen Nachteilen ausgesetzt. Eine solche Publizierung verstärkt dieses Problem nur noch zusätzlich. Die Leser*innen werden in ihrer Meinung, dass wir zu nichts taugen, bestätigt. Somit macht es das Leben in der Schweiz noch herausfordernder, als es bereits ist. Liebe Migros, meine Eltern können mehr als nur Autos fahren und stolz über Ihre Herkunft sein. Sie sprechen gutes Deutsch, verdienen gute Löhne und sind ein funktionierender Teil der Schweizer Gesellschaft. Genauso wie ich.

«Ich frage mich, wie denn das Bild der Redaktion des Migros Magazins von ‹uns› – also Schweizer*innen mit aus dem Balkan eingewanderten Eltern – aussieht, wenn nicht so?»
Stimm Vo da. #4

Mich enttäuscht das Verhalten der Migros sehr. In meinen Augen versucht man, diesen «Fauxpas» möglichst schnell unter den Teppich zu kehren, damit die Migros ja keinen Imageschaden davonträgt. Dadurch, dass man dieses Thema aber so schnell unter den Teppich kehrt, erreicht man keine fundierte Auseinandersetzung damit, wie so ein Bild in erster Linie entstehen, durch die Redakteur*innen niedergeschrieben, wahrscheinlich mehrmals gegengelesen und schliesslich publiziert werden konnte. Mit diesem Ansatz korrigiert man dieses Bild nicht, sondern vermeidet lediglich, dass es in Zukunft über die Migros womöglich wieder nach aussen dringt. Ich bezweifle, dass die Redaktion tatsächlich versteht, was bei dieser Umsetzung «vergeigt» wurde. Es geht mir nämlich nicht primär um die unangemessene Bildsprache und auch nicht darum, dass man auch «einige von den anderen von denen» hätte zeigen müssen. Ich frage mich viel mehr, weshalb man «uns», die wir da geboren, aufgewachsen und sozialisiert wurden, noch immer als so fremd zu sehen scheint. Ich frage mich, wie denn das Bild der Redaktion des Migros Magazins von «uns» – also Schweizer*innen mit aus dem Balkan eingewanderten Eltern – aussieht, wenn nicht so? Wie sonst hätte dieses Bild seinen Weg ins Migros Magazin gefunden, wenn die Redaktion dieses Bild nicht selbst verinnerlicht hätte?
Es ist höchste Zeit, an diesem binären Bild zu rütteln. Damit dies gelingt, muss man zuerst verstehen, was man falsch gemacht hat, sich ehrlich dafür entschuldigen und schliesslich aufzeigen, wie man sich zu bessern gedenkt. Es gibt nämlich kein «wir» und «sie» – es gibt nur ein «Wir». Ein «Wir», welches sich aus vielen, sehr unterschiedlichen Individuen zusammensetzt. #mirsindvoda

«Dass keine Reaktion seitens des Migros Magazins stattfand, fühlt sich an wie eine zweite Beleidigung.»
Stimm Vo da. #5

Via Social Media wurde ich von der Migros kontaktiert und gefragt, ob ich bereit wäre für ein Telefongespräch. Im Gespräch mit einer Autorin des Migros Magazins haben wir darüber geredet, wieso der Artikel diskriminierend ist, was die Learnings des Magazins sind, wie der Prozess zur Erstellung des Dossiers war und über die Verantwortung des Magazins gegenüber ihrer Leser*innenschaft. Nach diesem konstruktiven Telefonat hatte ich das Gefühl, dass das Migros Magazin die Fehler einsieht und eine Stellungnahme verfasst. Am Telefon wurde mir versichert, dass ihrerseits etwas kommuniziert wird und ich darüber informiert werde. Das war am 22. Juni 2020. Seither habe ich nichts gehört und kein Statement der Migros gelesen oder sonstige Informationen erhalten. Dass keine Reaktion seitens des Migros Magazins stattfand, fühlt sich an wie eine zweite Beleidigung. Es ist traurig zu sehen, dass ein solches Magazin nicht die Verantwortung übernimmt, ihren Fehler eingesteht und dies auch öffentlich kommuniziert. Zudem ist es auch eine Beleidigung gegenüber den Mitarbeitenden der Migros selbst.

Update: Trotz mehrmaligem Nachfragen hat die Migros uns – auch nach dem Schreiben an die Präsidentin der Verwaltung des Migros-Genossenschafts-Bunds sowie den fünf beigelegten Stimme Vo da. – nie Antworten auf unsere Fragen zukommen lassen und auch nie eine Stellungnahme zu besagtem Magazin-Special verfasst. Unser Abschluss-Artikel dazu: Keine Antworten von der Migros