Wenn Birken blühen

Vor Jahren besuchte ich eine Lesung von Anita Lasker-Wallfisch, einer Überlebenden des Holocaust. Als Cellistin wurde sie ins Mädchenorchester von Auschwitz aufgenommen. Das Cello hat sie gerettet. Anita erzählte – von der Angst, den Leichen, von den Liedern und den Birken, die selbst inmitten des Todes jeden Frühling zu blühen begannen. Seitdem ich selbst Auschwitz besucht habe, kann ich nicht Birken sehen, ohne Angst und Trauer zu empfinden.
Und dann sagte sie den einen Satz, der mein Denken bis heute wie ein Lied in Moll durchdringt: «Die Gaskammer ist nicht der Holocaust, der Holocaust endete dort.»
Denn für Anita begann der Holocaust lange vor Auschwitz, vor den Deportationen und den gelben Sternen, lange bevor man Frauen den Kopf kahlrasierte und sie von ihren Männern nicht mehr erkannt wurden. Er begann in einem Klassenzimmer, einem vermeintlich sicheren, einem aufgeklärten, gerechten, humanistischen Ort also und nicht unter den Birken im Todeslager. Er begann auf der Grundschule, vor der Wandtafel, als ein Mitschüler zum anderen sagte, er solle dem Juden nicht den Schwamm geben. Ein Wortaustausch unter Kindern markiert für Anita den Beginn eines Völkermords – und dies, lange bevor sie für ihre Mörder Cello spielte.
Rassismus ist kein Endprodukt. Rassismus beginnt am Anfang und nicht am Ende. George Floyds Tod ist nicht Rassismus. Er ist die Manifestation von dem, was davor war: ein langer Weg von Benachteiligungen, von Diskriminierung, von Schmerz. George Floyds Tod begann, lange bevor er getötet wurde. Rassismus beginnt im Kleinen, diffus, fast wort- und strukturlos in Nebensätzen und nicht immer nur am Stammtisch. Er beginnt auch in der S-Bahn, in Lehrer*innenzimmern, in Restaurants der Trendquartiere, auf Hochzeitsfesten, an Universitäten und Kulturveranstaltungen. Und er beginnt am Familienfest, an dem wir die missbilligende Äusserung unserer Tante über «Jugoslawen», Portugiesen, Juden, Chinesen, Muslime, Albaner und Schwarze Menschen überhören, ignorieren, nicht erst nehmen, nur, damit man in Harmonie weiter gesellig zusammen sein kann. Statt zu fragen, wie sie, die Tante, die Äusserung gemeint habe, schöpft man ihr lieber noch etwas Kartoffelsalat. Sie hat niemanden umgebracht, niemanden verletzt. Vielleicht deshalb, weil sie niemanden, der sich hätte betroffen fühlen können, auch eingeladen hätte.
Rassismus beginnt in der Verharmlosung von schwierigen Lebensentwürfen, die uns fern sind: Leben in Flüchtlingslagern, Leben in engen Wohnverhältnissen, in der Fremde, Leben, wo nichts mehr ist, wie es in der Kindheit war und alles schmerzlich erinnert werden muss.
Rassismus beginnt dort, wo wir nur über statt mit den Menschen reden. Der Albaner könnte so viel mehr sein als nur «der Albaner»: ein liebevoller Vater, ein Querdenker, ein Geschichtenerzähler, ein Koch im Altersheim, ein Freund der klassischen Musik, ein Dickkopf, einer, der sich Sorgen macht um seine Mutter in Kosovo, die ausser dem Mohnblumenfeld vor dem Haus niemanden mehr hat.
Rassismus beginnt auch dort, wo wir vor jemandem flüchten, der einst tatsächlich geflüchtet ist, weil wir eben lieber nicht in Winterthur Töss, Bern Bethlehem oder Zürich Schwamendingen leben wollen, sondern lieber in Zollikon oder Hallau, und dies mit schönen Rebbergen begründen. Am Afro-Pfingsten-Festival in Winterthur wird das Fremde gefeiert, im Alltag haben wir dann aber Mühe damit und wundern uns, dass der Somalier nicht nur ein Somalier ist, sondern auch ein Mensch mit Smartphone.
Rassismus beginnt dort, wo man türkischen und dominikanischen Schülerinnen und Schülern gewisse Leistungen nicht zutraut, weil sie keine Wanderschuhe besitzen, weil sie kein Birchermüesli essen, weil sich in ihre Aufsätze Fallfehler einschleichen, die das muttersprachliche Gehör nicht erträgt, obwohl Yanick und Céline genauso viele strukturelle Fehler beim Schreiben machen. Mehrsprachigkeit gilt als hochgelobtes Bildungsgut – einfach nicht für die Kinder der Eingewanderten.
Ich schreibe hier vielleicht als eine, die zur privilegiertesten Ausländergruppe der Schweiz gehört: zu den Italienerinnen. Uns mag man inzwischen. Wir wohnen nicht mehr in Baracken und müssen unsere Kinder nicht mehr im Kleiderschrank verstecken. Wir dürfen bleiben, auch dann, wenn die neunmonatige Arbeitssaison vorbei ist. Auf dem Trottoir nehmen wir nicht mehr zu viel Platz ein, und statt wegen James Schwarzenbach auf gepackten Koffern zu sitzen, sitzen wir nun auch in Anwaltskanzleien, Chefetagen und an Lehrerpulten. 1950 waren wir «Sau-Tschinggen», 2020 sind wir gute Freunde. Ich möchte nicht zur Ausländergruppe erster Klasse gehören. Denn er wird oft vergessen, der Schmerz, durch den wir einst gingen.
Rassismus ist nichts, was passiert, sondern etwas, das ist. Selbst in strahlendem Frühlingslicht stehend, werden mich Birken daran erinnern. George Floyds Tod ist nicht Rassismus. Er endet dort.

Laura Saia ist Sekundarlehrerin in Winterthur und schreibt gelegentlich als Gastautorin für die Zeitung. Diesen Artikel hat sie uns freundlicherweise zur freien Publikation zur Verfügung gestellt. Er erschien bereits am 07. Juli 2020 in der NZZ.