Mein Niqab und ich

Meine äussere Erscheinung veranlasst viele Menschen dazu, mich in ihrem Kopf in eine vorgefertigte Schublade zu stecken, die bereits mit bestimmten mehrheitlich negativen Attributen versehen ist, welche überhaupt nicht auf mich zutreffen. Kritische wie auch häufig abwertende Blicke gehören deshalb leider zu meinem Alltag. Ich bin Melanie, 26 Jahre alt, Niqabträgerin – und bin vo da. Ich lebe in der Schweiz und ich bin Schweizerin. Meine Eltern, meine Grosseltern und so weiter alle auch. Weil für manche Leute diese Kombination aber in der von ihnen für mich eingerichteten Schublade im Kopf nicht vorgesehen ist, tönt es mir gegenüber oftmals so: «Aber ihr vom Ausland müsst lernen euch anzupassen, wenn ihr hier mit uns leben wollt.» Daraufhin betone ich jeweils gezwungenermassen meine schweizerische Herkunft, was dazu führt, dass die Leute kurz zögern, dann ins Stocken geraten und anschliessend nicht mehr so richtig wissen, was sie sagen sollen. Beim Nachdenken über solche Momente frage ich mich, wie wohl ihre Reaktion bei einer Niqabträgerin, die nicht in akzentfreiem Schweizerdeutsch geantwortet hätte und/oder deren (Familien-)Biografie eine Migrationsgeschichte beinhaltet, ausgefallen wäre. Was hätte sie sich noch weiter anhören müssen? Wie wäre mit ihr umgegangen worden? Welche anderen Erfahrungen macht sie mit ihrem Niqab in der Schweiz?

Im Oktober 2012 bin ich aus eigener Entscheidung heraus sowie aus meiner persönlichen Überzeugung zum Islam konvertiert. Rund ein Jahr später beschloss ich, von nun an einen Hidschāb («Kopftuch») zu tragen. Heute stellt für mich ein Niqab, d.h. die Verschleierung des Gesichts, abgesehen von meinen Augen und den Händen, meine Wunschkleidung in der Öffentlichkeit dar. Zum einen bestärkt meine Bedeckung meine Beziehung zu Gott, zum anderen trägt sie fest zu meinem Wohlbefinden bei. Ja, ich verbinde meine Bedeckung mit Wohlbefinden und geniesse es, sie zu tragen. By the way: Ich kenne persönlich keine Frau, die ihre Bedeckung nicht freiwillig trägt. Das bedeutet natürlich aber nicht, dass das in all jenen Ländern, wo Frauen zur Bedeckung kulturell oder gesetzlich gezwungen werden, auch stets der Fall ist. Allerdings haben diese «Enthüllungsverbote» für Frauen mit dem für die Schweiz vorgeschlagenen «Verhüllungsverbot» mehr gemeinsam, als viele sich vielleicht eingestehen möchten. Denn de facto sind beides durch den Staat den Frauen aufgezwungene Kleidungsvorschriften, die bei einem Verstoss mit einer Bestrafung durch die Behörden geahndet werden. (Im Kanton Tessin, wo bereits ein solches Verbot gilt, gibt es eine Busse von bis zu 10’000 Franken!)

Ich sehe mich selbst als eine offene und kommunikative Person. Nicht «trotz» oder «wegen» meiner Bedeckung, sondern weil ich so bin, wie ich bin. Ich gehe gerne auf Menschen zu und lasse mich auf unterschiedliche Gespräche oder Diskussionen ein. Ich habe es mir gewissermassen auch zur Aufgabe gemacht, die Menschen so gut es geht über das falsche Bild vom Islam aufzuklären. Denn «der Islam», eine Religionsgemeinschaft, die knapp 2 Milliarden Menschen umfasst, lässt sich genauso wenig in einem einzigen Satz erklären, wie «das Christentum», dem etwas über 2 Milliarden Menschen angehören und ebenso divers ist und unterschiedlich praktiziert wie auch gelebt wird. Für mich passt mein mittlerweile zwei Jahre alter Beschluss, meinen Niqab zu tragen noch immer. Ich tue dies für mich und für meine Beziehung zu Gott. Ich werde regelmässig mit Vorurteilen von Unterdrückung und Zwang konfrontiert. Jedoch erlebe ich selber im Islam weder das eine noch das andere. Der einzige Zwang, den ich aktuell fürchten muss, ist ein potenzielles Verhüllungsverbot in der Schweiz. Es wäre somit also die sich stets als tolerant und offen gebende Schweiz, die mich dazu zwingen würde, nicht das zu tragen, was ich gerne möchte und worin ich mich wohlfühle. Das entspricht nicht der Schweizer Gesellschaft, die ich kenne und liebe. Was diese ausmacht, sind neben ihrer Vielfalt vor allem auch Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit und Toleranz. Die sogenannte «Verhüllungsinitiative» verkörpert keine dieser Eigenschaften. Auch immer wieder höre ich, wie sich Menschen hierzulande über die Existenz von Kleidungsvorschriften im Ausland aufregen und beklagen. Warum also hier nun solche Vorschriften einführen und dadurch bestimmte Menschen stark einschränken? Ich finde, wir sollten auch in Zukunft mit einem guten Beispiel vorangehen und ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit verschiedenen Religionen und diversen Traditionen demonstrieren. Das ist es, was unsere Gesellschaft weiterhin ausmachen könnte. Das ist es allerdings auch, was derzeit durch mögliche Verbote, Intoleranz und Hetze gegen Minderheiten stark gefährdet wird.

Melanie (26) lebt in der Schweiz. Als Niqabträgerin würde eine Einführung eines schweizweit geltenden Verhüllungsverbots direkt in die ihr durch die Bundesverfassung zugesicherten Grundrechte eingreifen. Die Abstimmung darüber fand am 7. März 2021 statt und wurde vom Schweizer Stimmvolk mit 51.19% angenommen. (Die Stimmbeteiligung betrug 51.4%.)