Behauptung #05
“Diese Leute sind nun mal einfach krimineller als wir. Wenn wir nicht aufpassen, können wir uns in unserem eigenen Land bald nicht mehr wirklich sicher fühlen.”
Je nachdem wer mit «diese Leute» und «wir» gemeint ist, kann der erste Satz dieser Aussage natürlich durchaus zutreffend sein. Wenn man zum Beispiel auf eine Gruppe von bereits verurteilten Straftäter*innen verweist, während man selbst sich bisher noch nie etwas hat zu Schulden kommen lassen. Wenn dabei hingegen – wie so oft – spezifisch auf Ausländer*innen, Menschen mit sogenanntem «Migrationshintergrund» oder Personen, deren Differenzierungsmerkmal lediglich auf einem angeborenen und nicht veränderbaren Attribut (z.B. Hautfarbe) beruht, verwiesen wird, ist diese Behauptung sowohl falsch, wie auch (rassistisch) diskriminierend. Dass der zweite Satz der Aussage schlicht falsch ist, merken all jene sofort, die sich die Kriminalstatistiken genau anschauen. Was allerdings mögliche Gründe für dieses beschriebene Empfinden sein können, erläutern wir weiter unten im Text.
Zunächst schauen wir uns die – gemäss wissenschaftlicher Forschung – vier wichtigsten Faktoren, die Kriminalität nachweislich stark beeinflussen, an: [1]
(in abnehmender Reihenfolge bezüglich Relevanz)
Geschlecht: Einer ausgeglichenen Vertretung von Männern und Frauen in der Bevölkerung stehen in der Strafurteilsstatistik rund 85% Männern lediglich 15% Frauen gegenüber.
(Anmerkung: Die vorhandenen Statistiken basieren leider alle auf dem binären Mann/Frau-Schema und diskriminieren daher intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen sowie alle anderen Geschlechtsidentitäten, indem ihnen ihre Existenz abgesprochen bzw. nicht zugestanden wird.)
Alter: Bei einem Anteil von etwa 30% an der Gesamtbevölkerung stellen Menschen unter 30 Jahren in der Schweiz jedoch rund 50% der Strafurteilsstatistik dar. Gleichzeitig werden Babys und Kinder bekannterweise kaum bis nie straffällig. Jene 50% dürften demnach mehrheitlich ältere Teenager bzw. junge Erwachsene sein, was bedeutet, dass sie einer eher stark begrenzten Altersgruppe angehören.
Sozioökonomischer Status: 60% der Straftaten gehen auf das Konto von ca. 37% der Einwohner*innen, die aufgrund ihrer sozioökonomischen Verhältnisse der Unter- oder unteren Mittelschicht anzurechnen sind. Die 63% aus der oberen Mittel- und Oberschicht begehen die übrigen 40% aller Straftaten.
Bildungsniveau: Für 50% der Schweizer Bevölkerung ist die Berufsfachschule der höchste erlangte Bildungsstand. Währenddessen machen jene Menschen aber 68% der inhaftierten Personen aus.
Kurz zusammengefasst heisst das:
Das am häufigsten auftretende Schnittmuster einer kriminellen Person in der Schweiz ist ein junger Mann mit bescheidenem sozioökonomischem Hintergrund und einem verhältnismässig eher geringen Bildungsniveau.
Da viele der Menschen aus – aufgrund ihrer ausländischen Herkunft bzw. Migrationsgeschichte – marginalisierten Bevölkerungsgruppen vor etliche schwierige Gegebenheiten, wie beispielsweise nicht anerkannte Diplome und Fähigkeitsausweise, fehlende Arbeitserlaubnisse und eine eingeschränkte finanzielle Lebensgrundlage, gestellt werden, können diese benachteiligenden Umstände schnell die beiden letzten der oben aufgeführten Faktoren stark negativ beeinflussen. Dieser Missstand kann entsprechend eine objektive Erklärung für den Schritt in die Kriminalität liefern. Dieser lässt sich hingegen nicht anhand ihrer Staatsangehörigkeit, ihrem «Migrationshintergrund» oder einem angeborenen Merkmal, das in keinem Zusammenhang zur Straftat steht, erklären. Am deutlichsten zeigt sich dies, wenn die oben genannten Faktoren, die für die Begünstigung von Kriminalität am einflussstärksten sind, gleichgesetzt werden. Dann verschwinden nämlich die signifikanten Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen innerhalb der Kriminalstatistik.
Da Faktoren wie biologisches Geschlecht und Alter nicht kontrollierbar sind, leuchtet uns allen ein, dass kriminalpräventive Massnahmen, die darauf ausgerichtet sind, diese zu beeinflussen (wie z.B. weniger Männer und junge Menschen in der Gesellschaft), offensichtlich nicht umsetzbar sind. Stattdessen sollte eine erfolgreiche Prävention von Straftaten viel mehr auf den dritt- bzw. viertwichtigsten Faktor abzielen: Die Entwicklung einer Mehrklassengesellschaft möglichst vermeiden und eine Anhebung des Bildungsniveaus von wirtschaftlich Schlechtergestellten gezielt fördern.
Woher stammt denn nun aber die Fehleinschätzung, dass die Schweiz zusehends ein grosses Problem mit bestimmten kriminellen Menschen aufgrund ihrer nicht-schweizerischen Herkunft hätte?
Gründe hierfür sind ebenso vielfältig, wie auch individuell. Sie entstammen jedoch in erster Linie einer verzerrten Wahrnehmung, die von der Realität teilweise stark divergiert. Eine im Jahr 2018 durchgeführte Studie der ZHAW («Kriminalität in der Schweiz sinkt, während die Sorge davor steigt«) zeigte, dass 61% der Befragten glaubten die Kriminalität hierzulande hätte zugenommen und 68% sahen darin einen direkten Zusammenhang mit Ausländer*innen. Hingegen berichteten beispielsweise nur 2.1% von ihnen, dass sie im Jahr zuvor körperlich verletzt wurden und 0.4% gaben an, dass sie ausgeraubt wurden. Am häufigsten erlebten die Befragten laut eigener Aussage Cyberkriminalität (11.5%).
Somit ist die Einschätzung von Kriminalität also nicht primär von persönlichen Erfahrungen geprägt. Stattdessen wird die Wahrnehmung insbesondere durch einen erhöhten Fokus in den Medien oder das öffentliche Anprangern von bestimmten Menschengruppen, die als vermeintlich homogen betrachtet werden, verzerrt, was wiederum Ausländer*innenfeindlichkeit und Rassismus zusätzlich befeuert.
Dies führt uns zum Argument der diskriminierenden Pauschalisierung. Denn genau das passiert, wenn man Straftaten mit nur einem ganz bestimmten und bewusst dafür herangezogenen Merkmal der Delinquent*innen in Verbindung setzt. Andere, wesentlich entscheidendere Komponenten, wie ein allfälliges Motiv oder andere relevante Zusammenhänge, werden völlig ausser Acht gelassen. Hierdurch wird ein sehr eindimensionales Bild der straffälligen Personen vermittelt.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Individualität und Selbstverwirklichung einen immens hohen Stellenwert geniessen. Es ist eine Gesellschaft, in der wir Jugendliche dazu ermutigen, ihr Potential voll auszuschöpfen und ihnen auch vermitteln, dass dem Erreichen ihrer Ziele keine Grenzen gesetzt sind, solange sie stets fleissig und zielstrebig daran arbeiten. Doch weshalb wird dann zugleich eine ganze Gruppe von Menschen durch verallgemeinernde Aussagen marginalisiert und ihnen, egal ob jung oder alt, dieselben fast ausschliesslich negativen Eigenschaften zugewiesen? Diese auferlegte Homogenität steht in starkem Kontrast zu der idealisierten Individualität und schliesst bestimmte Menschen aus der Dominanzgesellschaft aus, womit sie auch jeglicher Aspiration auf ein selbst zu bestimmendes Schicksal beraubt werden.
Ein weiterer, zu beachtender Aspekt ist jener der sogenannten «Hellfeld- und Dunkelfeldkriminalität». Das «Dunkelfeld» bezeichnet die unbekannt grosse Summe aller Tätigkeiten, die gegen das geltende Gesetz verstossen. Das «Hellfeld» umfasst lediglich die deutlich kleinere Summe der angezeigten und tatsächlich durch die Polizei verfolgten Taten. Studien haben hierbei zwei aufschlussreiche Fakten ans Licht gebracht. Zum einen werden weniger als ein Drittel aller verübten Gewalt- und Raubverbrechen angezeigt. Zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein «einheimisches» Opfer Anzeige gegen den/die Täter*in erstattet um mehr als 50% höher ist, wenn ein «Migrationshintergrund» vermutet wird. (Im Gegensatz dazu, wenn der/die Täter*in als ebenfalls «einheimisch» eingeschätzt wird.) [2]
Dies wird u.a. auch dadurch verstärkt, dass die Medien nur eine sehr selektive Berichterstattung führen. Über viele der von Redaktor*innen für die Medienkonsument*innen als «irrelevant» erachteten Straffälle wird gar nicht berichtet. Selbst wenn eine Straftat ihr Interesse für eine Berichterstattung darüber weckte, kommt es – bewusst oder unbewusst – vor, dass diese Erzählung teilweise so dokumentiert wird, dass sie einem von gewissen Medien selber angestrebten Narrativ gerecht wird bzw. werden muss. Die Erzählung ist dann – zur Steigerung der Auflage oder aus anderen, auch nicht zwingend journalistischen Gründen – meist gespickt mit einer Portion «Sensationalisierung» der Tatsachen und kann hierdurch unter Umständen zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden, in der die Berichterstattung die Selektion unserer Wahrnehmung zunehmend stark beeinflusst.
Wenn wir das Gefühl von Sicherheit mit dem tatsächlichen Vorkommen von Straftaten vergleichen, zeigt der Trend deutlich in eine Richtung: Relativ zur Bevölkerungsentwicklung hat die gemessene Kriminalität in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. So hat sich beispielsweise die Anzahl Geschädigter im Jahr 2019 im Vergleich zu 2012 um fast einen Drittel reduziert.
Oder in anderen Worten: Es gab im Jahr 2019 insgesamt über 100’000 weniger Opfer von Straftaten als noch sieben Jahre zuvor. [3]
Die Schweiz wurde somit von einem sicheren Land zu einem noch sichereren Land und das Argument, dass man sich hier zunehmend unsicherer fühlen muss, wurde somit klar entkräftet.
[1]: https://asile.ch/2012/12/18/andre-kuhn-wie-ist-die-ueberreprasentation-von-auslandern-in-der-kriminalitat-zu-erklaren/
[2]: https://www.tagesanzeiger.ch/sind-auslaender-wirklich-krimineller-als-schweizer-837874009649
[3]: https://digitalcollection.zhaw.ch/bitstream/11475/19988/3/2020_Baier_Migration-Kriminalit%C3%A4t-Schweiz.pdf
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