Interview: Rassismus in Lehrmitteln
Das Kollektiv Vo da. engagiert sich aktiv im Bildungsbereich und setzt sich für eine Auseinandersetzung mit Rassismus in der Schule ein. Vor kurzem führten wir daher ein Gespräch mit Mandy Abou Shoak und Rahel El-Maawi, die uns dabei Einblick in ihr neu veröffentlichtes Projekt «Rassismus in Lehrmitteln» gewährten.
Mandy Abou Shoak arbeitet als Soziokulturelle Animatorin an einer Schule und schreibt aktuell ihre Masterarbeit zur Frage, was es für eine rassismussensible Schule braucht.
Rahel El-Maawi begleitet Organisationen für eine diversitätsorientierte Betriebs- und Organisationskultur und ist Lehrbeauftrage für Soziokultur.
Zusammen haben sie eine Rassismuskritik zu aktuellen Schulbüchern formuliert und diese in drei Broschüren unter dem Titel „Einblick: Rassismus in Lehrmitteln“ publiziert. Beide sind aktive Mitglieder im Netzwerk Schwarzer Frauen in der Deutschschweiz Bla*Sh.
Kollektiv Vo da.: Seit Jahren seid ihr gegen Rassismus und Diskriminierung aktiv. Wie habt ihr die letzten paar Jahre erlebt? Und warum habt ihr vor zwei Jahren mit dem Projekt «Rassismus in Lehrmitteln» begonnen?
Mandy Abou Shoak: Mit der Black Lives Matter-Bewegung wurde der Rassismus in der Gesellschaft sichtbarer. Heute wissen wir, dass Rassismus nicht nur dem politisch rechten Spektrum zuzuweisen ist. Rassismus entsteht und wächst in der Mitte der Gesellschaft. Als ich vor vier Jahren als Sozialarbeiterin an einer Geschichtsstunde teilnahm, erlebte ich, wie viele rassistische Begriffe und Darstellungen den Schulalltag prägten und prägen. Einmal mehr wurde mir bewusst, welche Rolle Schulen spielen. Ich erlebte wie Schüler*innen eine abwertende Sprache und Haltung gegenüber Schwarzen Menschen lernten. Damals fasste ich den Entschluss, etwas zu tun.
Rahel El-Maawi: Bereits in meiner Kindheit begegneten mir rassistische Stereotypen. Später erlebte ich als Bezugsperson Schwarzer Kinder, wie verletzend und entmenschlichend Rassismus wirkt. All diese Erfahrungen haben mich dazu bewogen, mich auch anti-rassistisch und postkolonial zu engagieren. Beruflich bin ich zudem im Bildungsbereich tätig, wo mir viele Berichte zu Rassismus im Klassenzimmer, der Schulkultur und in Lehrmitteln begegnen. Also recherchierten Mandy und ich weiter. Daraus entstanden die drei Broschüren „Einblick: Rassismus in Lehrmitteln“.
Mit dem Projekt fokussiert ihr euch auf den Bildungsbereich. Wie sieht Rassismus und Diskriminierung in der Schule aus?
Rahel: Die Schulen, wie auch die Pädagogischen Hochschulen, berücksichtigen meiner Meinung nach zu wenig, dass wir in einer diversen Gesellschaft leben. Noch immer bestehen Lücken betreffend die Vielfalt im Klassenzimmer. Das heisst, es gibt noch immer „die Anderen“ – die Nicht-Schweizer*innen bzw. die «Nicht-Dazugehörenden». Dieser Othering-Prozess (Anm. d. Red.: eine Person(engruppe) anders machen) zieht sich durch das gesamte Bildungssystem.
Mandy: Menschen of Color (PoC) werden grundsätzlich als unterlegen dargestellt, während weisse Menschen als zivilisiert und überlegen abgebildet werden. Diese Darstellungen sind auf die – heute widerlegte – Theorie zurückzuführen, dass es verschiedene «Rassen» und unter ihnen eine naturgegebene Hierarchie gibt. In den Schulbüchern wird aber noch immer von dieser falschen Annahme ausgegangen. Das ist verheerend.
Welchen Einfluss haben rassistische und diskriminierende Darstellungen oder Beschreibungen in Schulbüchern?
Mandy: Einen sehr grossen! Die abwertende Darstellung von Schwarzen Menschen hat eine lange Geschichte. Man weiss heute, dass die negativen Zuschreibungen von Schüler*innen übernommen werden. Beispielsweise wird rassismusbetroffenen Schüler*innen in die Haare gefasst oder man richtet explizite Affengeräusche an sie. Lehrpersonen und Sozialarbeiter*innen verpassen es oftmals, einzuschreiten und sich gegen diese rassistischen Handlungen auszusprechen. Das Problem wird so heruntergespielt und das Hilfssystem für die Kinder wirkt nicht. Damit werden weisse Kinder bevorteilt, während Kinder of Color konstante Abwertung und Destabilisierung ihres Selbstwerts erfahren. Dies kann fatale Folgen für die Entwicklung haben und zu Traumata führen.
Rahel: Schulbücher sind ein Spiegel der Gesellschaft. Sie zeigen, welche Werte in unserer Gesellschaft gelten. Im neuen Lehrplan 21 kommt das Wort «Rassismus» kein einziges Mal vor! Das zeigt, welches fragwürdige Verständnis in der Schweiz herrscht: Rassismus ist hier kein Thema.
Die Schweiz ist (noch immer) nicht bereit, die Zeit der europäischen Gewaltverbrechen, der Versklavung und Kolonialisierung für Schüler*innen aus verschiedenen Blickwinkeln zu vermitteln. Es sind weiterhin eurozentrische und verherrlichende Erzählungen, die unkritisch wiedergegeben werden und damit die dazumal geglaubte Hierarchie der Menschen reproduzieren. Wenn Lehrmittelverlage rassistische Schulbücher publizieren, ist es Ausdruck eines institutionellen und strukturellen Rassismus.
Mandy: Schlicht und einfach verstösst es gegen das Recht auf diskriminierungsfreie Bildung. Ein Recht, das jedem Kind zusteht und in der UNO-Kinderrechtskonvention erwähnt wird. 1997 wurde die Konvention von der Schweiz angenommen und hat Gültigkeit.
Was ergab eure Recherche?
Rahel: Aus jedem der untersuchten Schulbücher spricht Rassismus. Vor allem in Deutschlehrbüchern scheint es manchmal etwas weniger offensichtlich. Hier finden sich kulturalisierende Beispiele – eine versteckte, neuere Form von Rassismus. In den Geschichtslehrbüchern sind die Rassismen einfacher in stereotypen Bildern zu erkennen und eben auch in der Art und Weise, wie über die Zeit der europäischen Invasion auf andere Kontinente gesprochen wird.
Mandy: Es ist falsch, anzunehmen, dass Schulen im Vergleich zu anderen öffentlichen Bereichen sensibler mit Ungerechtigkeiten umgehen. Auch Schulbücher, die vor zwei Jahren neu aufgelegt wurden, sind im Kern rassistisch. Nur ein Geschichtsbuch hat uns positiv überrascht. Darin wird über Francois-Dominique Toussant, einem haitianischen Widerstandskämpfer zur Zeit der Kolonialisierung, berichtet. Er wurde mit Namen und Bild abgebildet.
Mandy Abou Shoak und Rahel El-Maawi haben in ihrem Projekt vier Geschichts- und fünf Deutschlehrbücher analysiert. Dabei stand die Frage im Zentrum: Wer wird, wie (nicht) erwähnt? In der Analyse werden auch die Herausgeber*innen berücksichtigt. Dabei konnte festgestellt werden, dass diese überwiegend weisse Männer sind. Deshalb stellte sich die Frage, ob eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialisierung möglich ist, wenn die Herausgeber der Lehrmittel weitestgehend der Mehrheitsgesellschaft angehören. Diese einseitig wiedergebenden Lehrmittel werden an Zürcher Volksschulen verwendet und prägen die heranwachsende Generation in ihrem Weltbild. Es führt dazu, dass sie rassistisches Denken ganz offiziell in der Schule lernen. Mandy und Rahel ist es wichtig, dass Rassismus und Diskriminierung Eingang in die Lehrer*innen-Ausbildung und in den Lehrplan 21 finden, damit Kinder einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung erhalten. Dafür braucht es einerseits eine Auseinandersetzung der Schweiz mit ihrer postkolonialen Vergangenheit, andererseits braucht es rassismuskritische Schulungen für die Lehrpersonen und entsprechende Lehrmittel. Da dieser Prozess einige Jahre in Anspruch nehmen wird, fordern Mandy und Rahel zum Schutz der Kinder bereits heute: Auch wenn es unbequem ist, müssen wir uns mit dem Thema Rassismus auseinandersetzten. Lehrpersonen können schon jetzt von sich aus aktiv ihre Schulmaterialien einer rassismuskritischen Analyse unterziehen und aussondern. Gemeinsam soll dadurch eine diskriminierungsarme Gesellschaft erwirkt werden. Diese Forderungen werden auch vom Kollektiv Vo da. geteilt und mithilfe unserer internen Arbeitsgruppe Bildung unterstützt.
Die drei Broschüren „Einblick: Rassismus in Lehrmitteln“ von Mandy Abou Shoak und Rahel El-Maawi umfassen eine Einführung mit Glossar sowie eine Analyse mit Geschichts- und eine mit Deutschlehrbüchern. Sie können gratis auf www.el-maawi.ch/publikationen und www.justhis.ch als PDF abgerufen werden.